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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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mussten. Kostete schon das Überwindung, so entmutigte uns noch mehr, dass die meisten der zum Werktor eilenden Beschäftigten entweder so taten, als sähen sie uns nicht, oder abwinkten, wenn wir ihnen unsere Flugblätter aufdrängten. Besonders deprimierend war, dass den SA-Leuten, die mehrmals zeitgleich mit uns erschienen, die Nazi-Pamphlete aus den Händen gerissen wurden. Das erboste uns, zumal wir bei den anschließenden Handgemengen meistens noch den Kürzeren zogen. Bei solch einem Gerangel büßte ich sogar – auf dem Altar des Klassenkampfes! – einen Schneidezahn ein.
    Schlimme Erinnerungen holen mich ein, wenn ich an die nur selten veranstalteten «Landagitationen» denke, bei denen wir zu zehnt oder zwölft mit einem klapprigen Lkw ins Oderbruch fuhren, um die längst auf Hitler eingeschworenen Bauern zu mobilisieren. In einem Dorf angekommen, wendeten wir unseren Laster vorsorglich in Fluchtrichtung und ließen zwei Leute als Bewacher zurück. In der Regel kamen wir überhaupt nicht dazu, unsere Argumente anzubringen. Kaum hatten die Bewohner «Rotfront-Leute» in uns erkannt, begannen sie uns zu beschimpfen und zu bedrohen.
    Begeisterung ergriff mich dagegen bei den kommunistischen Demonstrationen, zu denen wir vom Neuköllner Richardplatz zum Karl-Liebknecht-Haus am Bülowplatz marschierten. Schon am Sammelpunkt geriet man, wenn das Kommando «In Viererreihen schwenkt marsch!» erscholl, in den Sog der proletarischen Disziplin. Trotz Schikanen der Polizei, die den Zug auseinanderriss oder das Singen von Kampfliedern verbot (da pfiff man eben!), fühlte man sich als Teil einer in die Zukunft drängenden, unbesiegbaren Masse. Unvergesslich ist mir der letzte dieser Aufmärsche am 25. Januar 1933 geblieben. Wir froren erbärmlich, doch erfüllte es uns mit Genugtuung, dass Arbeiterfrauen den Demonstranten heißen Malzkaffee auf die Straße brachten. Unsere Rufe «Wo sind die Faschisten?» beantworteten wir selbst mit düsterem «Im Keller!» und jubelten Thälmann, Dahlem und Florin zu, die auf einer Tribüne vor dem Karl-Liebknecht-Haus standen und ihren Kampfeswillen mit geballten Fäusten bekundeten.
    Fünf Tage später, am 30. Januar, kamen wir, zwei Jungen und ein Mädchen, auf dem Nachhauseweg von der Schule am dichtumringten Schaufenster des «Neuköllner Anzeigers» vorbei. Vor ein paar Minuten hatte man eine Eilnachricht des Wolff’schen Telegrafenbüros hinter die große Scheibe gehängt: Adolf Hitler war zum Reichskanzler berufen worden. Bestürzt nahmen wir die Neuigkeit zur Kenntnis. Mein Kumpel sagte: «Nun, länger als der Schleicher wird’s der braune Schlawiner auch nicht machen.» Das Mädchen an unserer Seite, eine Jüdin, schüttelte den Kopf. «Wenn diese Regierung mal nicht lange an der Macht bleibt. Auf jeden Fall werden wir den heutigen Tag im Gedächtnis behalten. Ich fürchte, solange wir leben.»
    In dieses Mädchen war ich mit meinen 15 Jahren verliebt, sodass meine Erinnerung an die nun beginnende nationalsozialistische Gleichschaltungsphase in sehr widersprüchliche Bildfolgen gekleidet ist. Natürlich beängstigten mich die ersten Gehversuche der Hitlerregierung, doch daneben beflügelten mich die schüchternen Küsse, die mich doppelt verlegen machten, weil Luta kein Arbeiterkind war. Als sie ihre, wie mir schien, kleinbürgerlich-pessimistische Voraussage traf, fühlte ich mich verpflichtet, ihr meinen proletarischen Optimismus entgegenzusetzen, doch brachte ich, da das unmöglich Geglaubte wahr geworden war, keine zuversichtliche Aussage über die Lippen. Zum ersten Mal im Leben schien mir die von vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten geprägte Zukunft mit Flecken bedeckt.
    In den ersten Wochen nach Hitlers Machtübernahme verlief mein Alltag seltsamerweise in gewohnten Bahnen – ich ging zur Schule, nahm nach wie vor an den Gruppenabenden im Schülerbund teil, tummelte mich auf der Eisbahn und verbrachte die Abendstunden mit Freunden. Zwar traten die Hakenkreuzler jetzt herausfordernder auf und die Zeitungen der Arbeiterparteien wurden häufiger als früher verboten, doch beruhigten wir uns noch immer damit, dass diese Regierung, in der die Nazis zudem in der Minderheit waren, nicht viel reaktionärer sei als die vorherige.
    Diese scheinbare Ruhe fand ein Ende, als der Reichstag in der Nacht zum 28. Februar 1933 in Flammen aufging. Schon am nächsten Morgen, als wir in der Zeitung die «Verordnung zum Schutze von Volk und Staat» lasen, schwirrten Gerüchte über
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