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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Gegenteil zu befürchten: dass der Text sich von der erlebten Wirklichkeit zu entfernen beginnt.
    Es besteht kein Zweifel, dass es sich um ein aufrichtiges Buch handelt. Es ist kein Rechtfertigungsbuch, wie Autobiographien es mitunter zu sein pflegen. Im Gegenteil, Wolfgang Ruge scheint jede Position seines Lebens auf ihre Haltbarkeit zu prüfen und lässt dabei die unangenehmen Dinge nicht aus. So gibt es nach einem halben Jahrhundert keinen Grund, einzugestehen, dass er in Kasachstan vom NKWD zur Unterzeichnung eines Dokuments gezwungen wurde, in dem er sich zur Spitzelarbeit bereit erklärt. Er tut dies um der Wahrheit willen. Gewiss wird das Geständnis dadurch erleichtert, dass es zu einer tatsächlichen Spitzelarbeit dann nicht mehr kommt, und doch legt dieses Detail nahe, dass hier keine Verdrängungsarbeit stattfindet, sondern Erinnerungsarbeit.
    Aber Erinnerungen sind kein Fixum, sondern werden, wie uns Psychologen und Neurobiologen lehren, im Grunde genommen immer wieder neu nach Plausibilitätskriterien kreiert. Vorgänge werden abgekürzt, umgeformt, geglättet, je öfter eine Erinnerung «überarbeitet» wird, desto mehr. Gewiss ist es unbedenklich, wenn der Stiefvater Hans Baumgarten, anstatt (wie in der ursprünglichen Version) mit den Brüdern Stockholm zu besichtigen, erst auf dem Dampfer nach Turku mit Wolfgang und Walter Kontakt aufnimmt. Schwieriger wird es, wenn Wolfgang Ruges «Ausbruchsversuch» nach Palästina ursprünglich vor den ersten Berichten über die Terrorzeit und vor dem Verlust der Wohnung und den elenden Fahrten nach Klin platziert wird, in der späteren Fassung aber danach . Obwohl dieses Ereignis (und der damit verbundene Gang zur deutschen Botschaft, über den mein Vater sein Leben lang geschwiegen hat) nicht ausdrücklich umdatiert wird, entsteht der Eindruck, als sei er hier nachträglich dem Wunsch erlegen, seine Motive durch die Umstellung der Erzählreihenfolge zu stärken.
    Hinzu kommen sprachliche Probleme. Im Verlauf der Arbeit nimmt Wolfgang Ruges Demenzkrankheit zu, es fällt ihm offenbar immer schwerer, notwendige Korrekturen zu akzeptieren und umzusetzen. Schließlich geht der Text – ohne dass ich ihn vorher zu Gesicht bekomme – mit all seinen Unzulänglichkeiten zum ehemals kommunistischen Bonner Pahl-Rugenstein-Verlag und erscheint im Spätsommer 2003, unverändert, ohne Anmerkungen oder Begriffserklärungen, dafür aber mit einem Bildteil, der neben zahlreichen Ungenauigkeiten (Sterbedaten fehlerhaft, Familien- und Vatersnamen werden verwechselt) manches Kuriosum enthält – so findet sich dort ein undatiertes Foto, auf dem ein rundlicher Wolfgang Ruge, umgeben von Picknickbroten und Weinflaschen, die «Lagerzeitung» liest, wie die Bildunterschrift behauptet (in Wirklichkeit stammt das Foto aus den fünfziger Jahren, und Wolfgang Ruge liest nicht die «Lagerzeitung», sondern die deutschsprachige «Rundschau»).
    Aus solchen und anderen Gründen schien mir eine sorgfältig überarbeitete Neuauflage dieses im Kern großartigen, wichtigen und in seiner Art einmaligen Buches nötig. Es ist nicht nur ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Leidens- und Lebensfähigkeit, es ist zugleich ein außergewöhnliches Zeitdokument, das Verbannung und Zwangsarbeit in der Sowjetunion aus der Perspektive eines deutschen Kommunisten beschreibt und insbesondere über die Deportation deutschstämmiger Menschen in der Sowjetunion und ihre Mobilisierung in die sogenannte Arbeitsarmee umfassend Auskunft gibt.
    Ich habe mich entschieden, den Text auf den jeweils frühesten verfügbaren Textversionen zu gründen. Die Teile «Neue Heimat» und «Die Steppe» beruhen auf dem in den achtziger Jahren geschriebenen Abschnitt, der bis zur Verbannung nach Kasachstan führt. Die Teile «Der Hunger» und «Die Ewigkeit» beruhen auf dem 1998 begonnenen Manuskript. Passagen über Wolfgang Ruges Mutter, seinen Vater, seinen Bruder und seine Frau Taissja habe ich stellenweise durch Texte aus anderen Bänden der schon erwähnten Familiengeschichte ergänzt oder ersetzt.
    Der Text wurde im Verlauf der Überarbeitung gekürzt und einem kritischen Vergleich mit späteren Fassungen unterzogen. Dabei habe ich mich nur dann gegen die ursprüngliche Version entschieden, wenn gute Gründe für die Neufassung zu erkennen waren. Wo es durch Kürzungen oder Umstellungen nötig war, habe ich Satzstrukturen verändert, ohne den Inhalt zu berühren. Sprachliche Probleme, die sich durch die Krankheit
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