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Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte

Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte

Titel: Geliebter Moerder - Eine wahre Geschichte
Autoren: Kristin Ganzwohl
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außergewöhnlich.
    Eigentlich hatte die Flasche gar nicht auf Elke gezeigt, als Claus an der Reihe war – dabei hatte er sich beim Drehen große Mühe gegeben. Sie blieb irgendwo zwischen Elke und einem Kumpel stehen, und der gab ihr einen kleinen Schubs in Elkes Richtung, einfach so, aus Spaß. Einen Schubs, den er später sehr bereuen sollte. Der Kumpel gab sich die Schuld, die beiden zusammengebracht zu haben und damit eine Art Mitverantwortung an Elkes Tod zu tragen. Absurd eigentlich, und trotzdem kann ich gut verstehen, was in ihm vorging. Hätte ich nur damals nicht – diesen Satz wiederholte er in der Zeit nach dem Mord immer wieder. Denn durch diesen Schubs zeigte die Flasche auf Elke, und Claus durfte sich aussuchen, ob er ihr eine Frage stellen wollte, auf die sie antworten musste, oder ob sie ihm einen Kuss geben sollte. Er entschied sich für eine Frage, die beides einschloss: »Würdest du mich küssen?« Elke lächelte und antwortete: »Ja, vielleicht.« Claus lächelte zurück, und wahrscheinlich war es in diesem Augenblick um beide geschehen. Ich jedenfalls wäre dahingeschmolzen, ganz einfach, weil Claus die Situation nicht ausnutzte, weil er nicht auf Geknutsche bestand, weil er Elke eine Wahl gelassen hatte, selbst auf die Gefahr hin, dass ihn die anderen auslachten.
    Ich stelle mir vor, wie es geprickelt haben musste, wie alle gespürt haben, dass aus diesen beiden ein Paar wird. Die Mädchen kicherten, die Jungs johlten, doch die beiden küssten sich noch nicht, berührten sich nicht einmal. Vielleicht aus Verlegenheit, vielleicht, weil sie keine Zuschauer wollten, vielleicht weil sie spürten, dass dieser erste Kuss zu wichtig war, um ihn an ein Partyspiel zu verschwenden.
    So detailgetreu sich Claus an das Flaschendrehen, an seine Frage, an Elkes Antwort und an ihr Lächeln erinnert, so verschwommen sind die Erinnerungen an diesen ersten Kuss.
    »Schön«, sagt er, wenn man ihn danach fragt. Er überlegt kurz und erzählt dann von »Fusseln, die Elkes schwarzes Kleid auf seiner Kleidung zurückgelassen hat«. Er glaubt zumindest, dass es ein Kleid war, »irgendwas Flauschiges«.
    Schwarze Fusseln auf seinem Hemd – mehr ist von diesem Kuss nicht in seinem Kopf geblieben? Mir fällt ein, wie sehr ihn Fusseln auf seiner Kleidung stören, wie er immerzu jedes kleinste Stäubchen und Härchen von seiner Hose pflückt. Ich ziehe ihn mit dieser Fusselphobie regelmäßig auf.
    Ich versuche, mir den ersten Kuss mit Thomas ins Gedächtnis zu rufen, aber auch mir gelingt es nicht. Spätere Küsse, Szenen voller Zärtlichkeit und Leidenschaft fallen mir ein, aber nicht dieser allererste Kuss. Traurig, finde ich. So wie Claus’ Erinnerung an nichts weiter als an schwarze Fusseln auf einem Hemd, das wahrscheinlich schon vor langer Zeit in die Altkleidersammlung gewandert ist.
    Anders als Thomas und ich wollten Claus und Elke nicht »anders sein«, wollten sich nicht abheben, träumten nicht von der Flucht aus dem Kleinstadtmief, von einem anderen, freieren, kreativen Leben in einer größeren Stadt, von Rucksackreisen durch Indonesien oder davon, die Welt zu verändern. Eine Banklehre galt damals als »etwas Solides«, die Zukunft schien gesichert. Diejenigen meiner Mitschülerinnen, die sich nach dem Abitur für eine Banklehre entschieden, hatten genaue Vorstellungen davon, wie ihr Leben einmal aussehen sollte – inklusive Heirat, Häuschen und Anzahl der Kinder. Manche begründeten ihre Wahl damit, dass sich Kinderkriegen mit diesem Beruf angeblich gut vereinbaren ließe und man trotzdem die Chance hatte, aufzusteigen und »für eine Frau« halbwegs gut zu verdienen. So argumentierten sie bereits in der zwölften Klasse. Es ging ihnen nicht um Sinnsuche, um Selbstverwirklichung oder um große Träume. Es ging um Planbarkeit, Sicherheit und das kleine Glück.
    Ich konnte und kann diese Denkweise nicht nachvollziehen, doch sie passt zu Claus. Er entschied sich für ein Studium, das in den Neunzigerjahren ähnlich wie eine Banklehre als »solide« galt, das Sicherheit, Geld und Karriere versprach: BWL . Letztlich war es eine Verlegenheitsentscheidung, wie bei so vielen, die sich damals für Betriebswirtschaft einschrieben: Sie hatten keine Ahnung, was sie wollten. BWL klang »vernünftig«, auch für die Eltern, und es war, ähnlich wie Architektur, modern und angesagt. Es war eine Entscheidung für lebenslängliches Krawatten-Tragen, für den Mainstream.
    Doch schon damals war das Wichtigste in
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