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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Autoren: Douwe Draaisma
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Gruppen von Kindern, oft in einem Umzug. »Hier erkennt man ein Syndrom«, schreibt de Morsier in Kenntnis der Stadtgeschichte, »das insbesondere in Genf studiert wurde.« 19 Gegen Ende seines Artikels tauft er diesen Halluzinationstyp auf den Namen >Bonnet-Syndrom<. Aufgrund der späteren Konflikte ist es wichtig, seine genauen Worte wiederzugeben: Er zählt das Leiden zu den »syndromes seniles avec lesions oculaires«, Alterssyndromen, die mit Augenschäden einhergehen. 20 Diese letzte Bemerkung sollte ihm noch leidtun.
    Rund dreißig Jahre später nahm de Morsier erneut den Stift zur Hand, um über visuelle Halluzinationen zu schreiben. 21 Im einleitenden Satz erwähnt er, 1936 habe er als Erster vorgeschlagen, visuelle Halluzinationen älterer Menschen, deren sonstige zerebralen Funktionen noch intakt seien, als >Bonnet-Syndrom< zu bezeichnen. Das Syndrom sei jedoch danach von Psychiatern vollkommen vergessen worden, weil diese älteren Menschen darüber hinaus keine neurologischen oder psychiatrischen Beschwerden hätten und daher nicht in psychiatrische Anstalten oder Kliniken aufgenommen würden. Daher fehle das Syndrom in den Klassifikationen, die intra muros erstellt würden. Erst in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren sei etwas mehr Literatur über das Bonnet-Syndrom erschienen. Laut de Morsier war dadurch jedoch eine heillose Verwirrung entstanden: Viele dieser Autoren hatten das Etikett auf ganz andere Leiden geklebt, was die ursprüngliche Definition in Gefahr brachte. Ein Psychiater hatte die Bilder eines demenzkranken Psychopathen, eines »semi-clochard« obendrein, unter das Syndrom eingeordnet, obwohl der Patient auch noch einen großen Tumor hatte, der auch die Sehnerven beeinträchtigte. Andere hatten das Augenleiden als Kriterium genommen, so dass auch junge Menschen das Bonnet-Syndrom haben konnten. Wieder andere hatten Alzheimer-Patienten mit eingerechnet oder chronisch psychotische Patienten. Sogar die Halluzinationen während eines alkoholischen Deliriums waren mit dem Bonnet-Syn-drom in Zusammenhang gebracht worden. Es schien, als hätten de Morsiers Kollegen jegliche Disziplin verloren.
    Für de Morsier standen natürlich gleich mehrere Dinge zur Diskussion. Jede Debatte über die Kriterien eines Syndroms ist zugleich eine Auseinandersetzung über seine Ursachen. Sind Alter und verminderte Sehleistung unabhängige Faktoren bei der Entstehung der Bilder, auch wenn sie in der Regel in Kombination auftreten? Oder ist gerade diese Kombination eine notwendige Bedingung? Entstehen die Bilder peripher (sprich: im Auge) oder zentral (sprich: im Gehirn)? De Morsier war von Letzterem überzeugt, aber unterschiedliche Augenärzte hatten mittlerweile bekundet, die Bilder seien die Folge von Prozessen im Auge selbst. Gehören Halluzinationen als Folge von Augenschäden auch zum Bonnet-Syndrom oder bilden sie eine eigene Kategorie? Die Ein-und Ausschlusskriterien legen fest, was zufällig ist und was wesentlich, was Anlass ist und was Ursache, was dazukommt und was unentbehrlich ist. Sie trennen die Bedingungen von den Konsequenzen, die Ursachen von den Folgen, sie versuchen, Ordnung ins Mosaik der Symptome, Nebeneffekte und der zugrunde liegenden Faktoren zu bringen. Solange es Meinungsverschiedenheiten über die Erklärung eines Leidens gibt, wird dieses eine
    Etikett >Bonnet-Syndrom< nicht nur eine Einheit suggerieren, die nicht vorhanden ist, sondern auch die Position des Namensgebers im Ungewissen lassen. Denn wer ist Herr über das Bonnet-Syndrom? Die medizinischen Kreise oder de Morsier? Letzterer beginnt und schließt seinen Artikel mit der ausdrücklichen Erwähnung, dass der Vorschlag, den Namen >Bonnet-Syndrom< für visuelle Halluzinationen bei älteren Menschen zu verwenden, die keine anderen geistigen Störungen hätten, von ihm stamme. Das war nicht ganz exakt - in der ursprünglichen Bezeichnung war durchaus von »lesions oculaires« die Rede -, aber die Absicht war klar: Er hatte den Namen gegeben und den Tauftext erstellt, die verehrten Kollegen wurden gebeten, sich daran zu halten. Das war ein verständliches Ersuchen, denn de Morsiers Platz in der Geschichte der Medizin war mit dem Schicksal des Syndroms verbunden, und je weiter sich die Kriterien von den seinen entfernten, desto größer war die Chance, dass man ihn in den Annalen als den Mann begraben würde, der dem falschen Syndrom den richtigen Namen gegeben hatte.
    In der modernen Fachliteratur wird im Eröffnungsabsatz
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