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Geheimnis des Verlangens

Geheimnis des Verlangens

Titel: Geheimnis des Verlangens
Autoren: Johanna Lindsey
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Tablett beladen durch den schmalen Korridor kam, zuckte bei dem Gebrüll zusammen und hielt erschrocken inne. Wilbert Dobbs hatte eine Stimme, die einem durch Mark und Bein fahren konnte — und das war auch der Nachbarschaft, die ihn regelmäßig durch das offene Fenster brüllen hörte, nicht verborgen geblieben. Viele Nachbarn kicherten gehässig, wenn sie Tanya auf der Straße begegneten, oder sie äfften Dobbs' Stimme nach, was noch schlimmer war. Aber schließlich gehörten ihre Nachbarn auch nicht zu den Menschen, von denen sie Verständnis oder Mitleid erwarten durfte, nur weil sie Tag für Tag beschimpft wurde. Und nach so vielen Jahren der Kränkung ließ die Beschämung langsam nach, man wurde fast immun dagegen.
    Außerdem war es längst nicht mehr so schlimm wie früher, nicht, seit Dobbs durch seine Krankheit auf sie angewiesen war. Bei diesem Gedanken musste Tanya plötzlich lächeln, und ihr Gesicht hellte sich auf. Ein seltenes Funkeln trat in ihre blaßgrünen Augen. Böse Worte — das war alles, was sie von Dobbs noch zu befürchten hatte, jetzt, da er bettlägerig war und sie nicht mehr schlagen konnte. Dafür hatte sie gleich am ersten Tag gesorgt, als er sein Bett nicht mehr verlassen konnte: Sie hatte seinen Stock verbrannt, seinen ständigen Begleiter seit so vielen Jahren, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wie viele es inzwischen waren.
    Als ihr dieser Stock wieder einfiel, zuckte sie erneut zusammen. Ihre Situation war jetzt zwar besser, als sie es sich je in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte, aber fast zwanzig Jahre Elend ließen sich nicht so einfach abschütteln.
    Sie brachte schließlich das Tablett zu ihm herein und ließ es klirrend auf den Tisch neben seinem Bett fallen, ohne sich darum zu kümmern, dass sie dabei einen ziemlichen Lärm machte.
    »Weshalb, zum Teufel, brauchst du heute morgen so lange, Missy?«
    »Der Bierkutscher war früher dran als sonst.«
    Er grunzte nur, was bedeutete, dass er die Entschuldigung akzeptierte. Die Wahrheit sah allerdings ganz anders aus. Tanya hatte sich einfach zur Abwechslung einmal zuerst selbst ihr eigenes Frühstück gegönnt, bevor sie ihm seins heraufbrachte.
    »Was hatten wir gestern in der Kasse?«
    »Ich hab's noch nicht nachgezählt.«
    »Ich will eine Abrechnung haben ...«
    »Wenn ich die Unordnung von gestern abend beseitigt habe.«
    Er lief rot an, als er ihre Antwort hörte, und sie errötete selbst ein wenig über ihre Kühnheit. Noch vor sechs Monaten hätte sie es niemals gewagt, so mit Dobbs zu sprechen, und das wusste n sie beide. Sie hätte auf der Stelle jede andere Hausarbeit im Stich gelassen, um seinem Wunsch nachzukommen, und ganz gewiss wäre sie ihm damals nicht mitten im Satz ins Wort gefallen.
    »Es tut mir leid«, sagte sie aus alter Gewohnheit. »Aber ich muss jetzt außer meiner eigenen Arbeit auch noch deine tun, und der Tag scheint nie genug Stunden zu haben, um alles zu erledigen. Wir müssen wirklich noch jemanden einstellen ...«
    »Na, na, du kommst doch prima allein zurecht. Und wir müssen immerhin schon drei Leute bezahlen. Noch mehr würde mich zuviel von meinem Gewinn kosten.«
    Sie hätte gern mit ihm darüber diskutiert, aber sie wusste aus Erfahrung, dass es nichts nützen würde. Die Haremstaverne brachte immer gutes Geld ein, aber Tanya durfte niemals etwas davon ausgeben, nicht für sich selbst, und auch nicht für die Taverne, die ihrer beider Lebensunterhalt war. Wofür, zum Teufel, sparte er sein Geld eigentlich? Er war keinen Tag jünger als sechzig und würde bald sterben — ein Umstand, der weder bei ihr noch bei anderen, die ihn kannten, besondere Trauer auslöste.
    Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hatte Tanya Dobbs und dessen Frau für ihre Eltern gehalten, und als sie später herausfand, dass es sich anders verhielt, empfand sie nur Freude darüber, keinen Schmerz. Aber wer ihre wirklichen Eltern waren, wusste sie nicht. Das einzige, was Iris Dobbs ihr hatte erzählen können, war eine traurige kleine Geschichte, die nun fast zwanzig Jahre zurücklag: Sie hätte Tanya als Säugling von einer Frau bekommen, die in einem Augenblick behauptete, ihre Mutter zu sein, nur um im nächsten darauf zu beharren, dass sie mit dem Kind nicht einmal verwandt sei. Aber das Fieber hatte die arme Frau wohl um den Verstand gebracht.
    Iris war dann vor acht Jahren gestorben. Sie war Tanyas einziger Schutz gegen Dobbs gewesen und hatte viele der Schläge eingesteckt, die
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