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Geheimnis des Feuers

Geheimnis des Feuers

Titel: Geheimnis des Feuers
Autoren: Henning Mankell
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sagte Totio. »Wenn du ein schönes Stück Stoff beschaffst und den Faden, den wir dazu brauchen, werde ich dir Nähen beibringen. Erst mit der Hand. Und dann, wenn du dich gescheit anstellst, sollst du es auf der Maschine lernen.«
    Sofia konnte es kaum glauben. Sollte sie wirklich die Nähmaschine treten dürfen? Aber woher sollte sie ein Stück Stoff bekommen?
    In dem Augenblick erwachte Fernanda. »Geh jetzt«, sagte Totio. »Jetzt hab ich keine Zeit mehr mit dir zu reden. Komm wieder, wenn du Stoff und Garn hast.«
    Sofia machte sich auf den Weg zu ihrer Hütte. Aber zuerst folgte sie einem der Pfade zum Fluss hinunter. Dort gab es einen Hügel, wo sie und Maria manchmal saßen und nach Krokodilen Ausschau hielten. Der Hügel war so weit vom Fluss entfernt, dass keine Gefahr bestand, ein Krokodil könnte sie erwischen. Aber an diesem Tag dachte sie nicht an die Krokodile. Wie sollte sie an ein Stück Stoff für Marias Kleid kommen? Sie hatte kein Geld, Mama Lydia hatte kein Geld.
    Dann fielen ihr die frisch gewaschenen weißen Laken ein, die zum Trocknen vor José-Marias Haus hingen.
    Vielleicht könnte sie um eines bitten? Aber den Gedanken schob sie sofort beiseite. Sie würde sich nie trauen zu fragen. Außerdem würde José-Maria bestimmt böse werden, wenn sie bettelte. Vielleicht würde er sie aus dem Dorf verjagen.
    Sofia blieb lange am Fluss sitzen. Es begann schon zu dämmern, als sie sich erhob und nach Hause ging. Sie sah, dass Lydia böse war, als sie die Hütte erreichte.
    »Wo bist du den ganzen Tag gewesen?«, fragte sie mit lauter Stimme.
    Sofia schlug die Augen nieder, als sie antwortete.
    »Nirgends«, sagte sie.
    »Nirgends«, sagte Lydia. »Ich dachte, du wärst in den Fluss gefallen. Oder hättest dich verlaufen. Warum kannst du nicht zu Hause bleiben, wenn deine Schwester krank ist?«
    »Ich bin wieder gesund, Mama«, rief Maria aus der Hütte. »Geh und hol Wasser«, sagte Lydia. »Beeil dich.
    Bald ist es dunkel.«
    An diesem Abend konnte Sofia nur schwer einschlafen. Sie dachte an Totio. An den weißen Stoff und wie sie ihn beschaffen sollte. An das Versprechen, das sie Maria gegeben hatte.
    Aber am meisten dachte sie an die weißen Laken. Oft hingen sie dort morgens in der Dämmerung. Das bedeutete, dass sie auch nachts draußen gehangen hatten. José-Maria hatte viele Laken. Er würde es wahrscheinlich gar nicht merken, wenn eins fehlte. José-Maria dachte bestimmt nicht daran, seine Laken zu zählen. Er hatte so viel anderes im Kopf.
    Sofia schlug die Augen in der Dunkelheit auf. Was dachte sie denn da?
    Dass sie ein Laken stehlen wollte? Würde sie aus gestohlenem Stoff ein Kleid nähen?
    Wollte sie, dass Maria ein Kleid trug, das gestohlen war? Sie krümmte sich in der Dunkelheit zusammen. Ihre Gedanken machten ihr Angst.
    Ich kann keins von José-Marias Laken stehlen, dachte sie. Es musste noch eine andere Möglichkeit geben.
    Aber Sofia fand keinen anderen Ausweg. Und morgens, als sie mit Maria zu den Äckern ging, konnte sie in der Ferne die weißen Laken im schwachen Morgenwind vor José-Marias Haus flattern sehen.
    Noch ein Mondumlauf verging. Als wieder Vollmond war, fühlte Sofia, dass sie nicht länger warten konnte.
    Eines Nachts, als alle schliefen, stand sie vorsichtig auf, schob die Bastmatte beiseite, die vor der Türöffnung hing, und verschwand in der Dunkelheit. Sie hielt den Atem an und lauschte. Alles war sehr still. Irgendwo raschelte eine Ratte. In einer Hütte wimmerte ein Kind im Schlaf. Dann kroch die Angst heran. Was würde geschehen, wenn sie jemand sah? Ich geh wieder schlafen, dachte sie. Ich kann es nicht tun. Selbst wenn ich mir das Laken nur ausleihe. Es wird immer José-Marias Laken sein, auch wenn es Marias Kleid ist.
    Gleichzeitig wusste sie, dass das Versprechen, das sie Maria gegeben hatte, wichtiger war. Sie begann durch die Dunkelheit zu laufen, vorbei an den dunklen Hütten, vorbei an der schwachen Glut, die immer noch in vielen Feuerstellen leuchtete.
    Dort hingen die Laken. Sie waren wie weiße unruhige Geister im Mondlicht. Sie blieb stehen und lauschte.
    Ich wage es nicht, dachte sie, ich wage es nicht. Dann schlich sie hastig zur Wäscheleine, nahm ein Laken ab, schob zwei andere zusammen, sodass die Lücke nicht auffiel, und lief davon.
    Plötzlich schienen alle Menschen im Dorf wach zu sein. Ihr war, als ob sie durch die Stäbe der Hütten spähten. Die Menschen sahen sie, Sofia, Lydias Tochter, Marias Schwester, die Diebin, die eins von
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