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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Und in diesem Moment, wenn sie nicht darauf vorbereitet ist, wüten die Tränen schließlich unkontrollierbar, von irgendwoher ganz tief in ihr drin, einem Ort, den sie kaum kennt.
    Somer geht unter die Dusche, und als sie sich anschließend auf die Couch setzt, sieht sie, dass die Flasche Wein jetzt offen ist. Sie gießt sich ein Glas ein, nimmt das Kuvert, das Kris’ Mutter geschickt hat, und schüttelt den Inhalt auf den Tisch. Sie liest, erfährt, dass viele Kinder in indischen Waisenhäusern keine richtigen Waisen sind, sondern vonEltern weggegeben wurden, die sie nicht aufziehen können oder wollen. Die Kinder dürfen im Waisenhaus bleiben, bis sie sechzehn sind, dann müssen sie gehen, um neuen Kindern Platz zu machen. Sechzehn?
    Kris’ Worte hallen ihr wieder durch den Kopf. Du wirst eine tolle Mutter sein. Du musst es einfach nur geschehen lassen . Somer füllt ihr Glas erneut und liest weiter.

9
Trost
    Dahanu, Indien – 1985
Kavita

    Kavita steht vor Tagesanbruch auf, genau wie jeden Morgen in den letzten paar Monaten, um zu baden und ihre puja zu verrichten, solange alle anderen noch schlafen. Die frühen Morgenstunden sind ihr einziger Trost, seit sie aus Bombay zurück ist.
    Nach ihrer und Rupas Rückkehr von dem Waisenhaus war Kavita traurig und verschlossen. Sie sprach kaum ein Wort mit Jasu und wich zurück, wenn er sie berührte. Zu Anfang, als frisch verheiratetes Paar, war die Verlegenheit zwischen ihnen erklärlich gewesen. Doch nun mieden sie einander, weil sie zu viel im jeweils anderen sahen. Nachdem sie zwei Kinder hatte abgeben müssen, empfand Kavita nur noch Groll und Misstrauen für ihren Mann. Sie wollte, dass er die Scham und Reue spürte, die sie an Ushas statt aus Bombay zurückgebracht hatte. Und sie wusste, dass der Trotz, mit dem sie sich ihm entzog, wenn auch nur vorübergehend, Jasu vor Augen geführt hatte, wie stark sie in Wirklichkeit war. So unbeholfen er sich in den Monaten danach auch verhielt, er hatte ihr so viel Zeit und Raum gelassen, wie sie brauchte. Das war in den vier Jahren ihrer Ehe das erste Mal, dass er ihr gegenüber echten Respekt zeigte. Jasus Eltern waren zu einem solchen Zugeständnis nicht bereit und ihre schwelende Enttäuschungwurde zu schonungsloser Kritik an ihrem Unvermögen, einen Sohn zur Welt zu bringen.
    Kavita geht nach draußen und breitet ihre Matte auf den groben Steinstufen aus, setzt sich dann darauf mit Blick zu der im Osten aufgehenden Sonne. Sie zündet den mit ghee getränkten Docht der diya und ein dünnes Räucherstäbchen an und schließt die Augen im Gebet. Der wohlriechende Rauch kringelt sich langsam hoch in die Luft und wirbelt um sie herum. Sie atmet tief ein, und wie immer denkt sie an die Töchter, die sie verloren hat. Sie läutet das Silberglöckchen und singt leise. Sie sieht ihre Gesichter und ihre kleinen Körper, sie hört sie schreien und spürt, wie sich ihre winzigen Finger um ihre schließen. Und immer hört sie Ushas verzweifelten Schrei hinter den geschlossenen Waisenhaustüren gellen. Sie lässt sich tief in ihre Trauer hineinfallen. Nachdem sie eine Weile gechantet und gesungen und geweint hat, versucht sie, sich vorzustellen, dass es den Babys gut geht, wo immer sie auch sind. Sie malt sich Usha als kleines Mädchen aus, das Haar zu zwei Zöpfen geflochten, jeder mit einer weißen Schleife zusammengebunden. Sie hat das Bild des Mädchens glasklar vor ihrem geistigen Auge: wie es lächelt, wie es herumläuft und mit den anderen Kindern spielt, wie es mit den anderen im Waisenhaus gemeinsam isst und neben ihnen schläft.
    Jeden Morgen sitzt Kavita mit geschlossenen Augen an derselben Stelle vor ihrem Haus, bis die aufwühlenden Gefühle ihren Höhepunkt erreichen und dann langsam abebben. Sie wartet, bis sie wieder ruhig atmen kann. Wenn sie dann die Augen öffnet, ist ihr Gesicht nass, und das Räucherstäbchen ist zu einem kleinen Häufchen Asche heruntergebrannt. Die Sonne ist ein glühender orangeroter Ball am Horizont, und das Dorf um sie herum erwacht zumLeben. Sie beendet ihre puja stets damit, dass sie mit den Lippen den einzelnen Silberreif berührt, den sie noch am Handgelenk trägt, um so eine Verbindung zu dem einzigen Gegenstand herzustellen, der ihr von ihren Töchtern geblieben ist. Diese täglichen Rituale haben ihr Trost gegeben und ihr mit der Zeit ein wenig Heilung gebracht. Mit diesen friedlichen Bildern von Usha im Kopf übersteht sie den Rest des Tages. Jeder Tag wird erträglicher.
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