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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Während aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate werden, spürt Kavita, wie ihre Verbitterung gegenüber Jasu nachlässt. Nach einigen Monaten erlaubt sie ihm wieder, sie zu berühren, und schließlich auch, in der Nacht nach ihr zu greifen.
    Als sie wieder schwanger wird, gestattet Kavita es sich nicht, genauso an das Baby zu denken, wie sie es zuvor getan hat. Sie achtet nicht auf ihre empfindlichen Brüste, berührt ihren dicker werdenden Bauch nicht. Sie teilt die Neuigkeit nicht mal sofort Jasu mit. Wenn ihr Gedanken an das in ihr wachsende Leben in den Sinn kommen, schiebt sie sie einfach wieder weg, so wie sie jeden Tag den Staub vom Boden fegt. Es ist eine Übung, die sie in den vielen Monaten nach Bombay zur Perfektion gebracht hat.
    »Es wäre vielleicht nicht schlecht, diesmal zur Untersuchung zu gehen, oder?«, sagt Jasu, als sie es ihm schließlich erzählt. Sie nimmt einen dringlichen Unterton in seiner Stimme wahr.
    Im Nachbardorf hat eine Praxis aufgemacht, die für werdende Mütter Ultraschalluntersuchungen anbietet, angeblich um festzustellen, ob die Babys gesund sind. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass alle in erster Linie deshalb dorthin gehen, um das Geschlecht des ungeborenen Kindes zu erfahren. Die Untersuchung kostet zweihundert Rupien, so viel, wie sie in einem Monat mit ihrer Ernte verdienen, und für den Weg zu der Praxis müssen sie einen ganzen Tag opfern. Sie werden das ganze Geld aufbrauchen müssen, das sie für neue landwirtschaftliche Geräte zusammengespart haben, doch trotz allem willigt Kavita ein.
    Sie weiß, wenn sich bei der Untersuchung herausstellt, dass wieder ein Mädchen in ihrem Bauch wächst, sind die möglichen Folgen allesamt schrecklich. Jasu könnte von ihr verlangen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, gleich vor Ort in der Praxis, wenn sie das nötige Geld hätten. Oder er könnte sie einfach verstoßen und sie so der Schande aussetzen, das Kind allein großziehen zu müssen. Sie würde ausgeschlossen werden, wie die anderen beecharis im Dorf. Aber selbst wenn sie aus der Familie und aus der Dorfgemeinschaft verstoßen würde, wäre das noch nicht so schlimm wie die Alternative. Sie könnte es nicht noch einmal ertragen, ein Kind zur Welt zu bringen, es in den Armen zu halten, nur um es sich wieder wegnehmen zu lassen.
    Kavita weiß in tiefster Seele, dass sie das nicht überleben würde.

10
Etwas Großes
    San Francisco, Kalifornien – 1985
Somer

    Somer sitzt auf dem Wannenrand, die nackten Füße fest auf den kalten Fliesen, in den Fingern das vertraute Plastikstäbchen. Trotz ihrer Tränen kann sie die beiden Parallelstriche noch so deutlich sehen wie vor acht Monaten, als sie ihr verrieten, dass sie schwanger war. Heute wäre ihr errechneter Geburtstermin gewesen. Heute hätten sie und Krishnan Grund zum Feiern gehabt, doch stattdessen wird sie allein trauern. Die mitfühlenden Mienen anderer Leute verloren sich ein paar Wochen nach ihrer Fehlgeburt. Der einzige Beweis für das Baby, das sie verloren hat, sind der Schwangerschaftstest, den sie jetzt in der Hand hält, und die dauernde Leere, die sie nicht füllen kann.
    Das Tuten des fernen Nebelhorns reißt sie zurück in die Gegenwart, und aus dem Nebenzimmer hört sie Kris’ Radiowecker, die unverwechselbaren Töne der Morgennachrichten im Lokalsender. Sie steht auf und steckt das Plastikstäbchen in die Tasche ihres abgetragenen Frotteebademantels. Sie weiß, Kris verliert allmählich die Geduld mit ihr, ihre Obsession, wie er es nennt, frustriert ihn zusehends. Er möchte nach vorn schauen. Sie dreht die Dusche an, als Kris die Badezimmertür aufschiebt.
    »Guten Morgen«, sagt er. »Wieso bist du denn schon auf?«

    Sie zieht ihren Bademantel aus. »Mein Flug geht um neun.«
    »Ach so, ja. Grüß deine Eltern von mir.«
    Sie steigt unter die Dusche und dreht das Wasser so heiß, wie sie es ertragen kann.
    Somer sieht den grauen Volvo, der vor dem Ankunftsterminal des Flughafens von San Diego hält. Ihre Mutter steigt aus und kommt um den Wagen herum zum Bordstein, um sie zu begrüßen.
    »Hi, Schätzchen. Ach, was freue ich mich, dich zu sehen.«
    Somer steigt über ihre Reisetasche und lässt sich in die offenen Arme ihrer Mutter fallen. Sogleich spürt sie, wie sie mit der Umarmung verschmilzt. Sie vergräbt das Gesicht in der weichen Strickjacke ihrer Mutter und dem schwachen Duft nach Oil of Olaz. Als sie anfängt zu weinen, fühlt sie sich wieder wie eine Neunjährige.
    »Ach, mein
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