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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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die Hand und führt sie überfüllte Bürgersteige entlang und über belebte Straßen. Kavita hat Mühe, mit ihrer Schwester Schritt zu halten, und bleibt nur einmal stehen, um dem Baby die Brust zu geben. Rupa blickt hinauf zu dem schon dämmrigen Himmel und sieht sich die Leute an, die ringsherum an ihnen vorbeihasten. Sie beugt sich zu Kavita und sagt: » Challo , bena , halt sie so.« Rupa hilft ihr, das Baby so zu halten, dass sie es im Gehen weiter stillen kann. »Wir müssen uns sputen. Wenn es dunkel ist, sind wir hier nicht mehr sicher.«
    Kavita gehorcht und beschleunigt ihre Schritte. In nur wenigen Stunden, so weiß sie, wenn Jasu mit dem Abendessen fertig ist und eine Weile mit den anderen Männern am Feuer gesessen und etwas getrunken und Bidis geraucht hat, wird er sie suchen gehen. Sie wird ihm lediglich sagen, dass er sich wegen des Babys keine Sorgen machen muss, dass sie sich um alles gekümmert hat. Er wird vielleicht wütend werden, sie vielleicht sogar schlagen, aber was ist das für eine Strafe im Vergleich zu dem, was sie bereits erlitten hat? Fast zwei Stunden lang eilen Kavita und Rupa ohne ein Wort weiter. Schließlich erreichen sie das zweistöckige Gebäude, an dem blaue Farbe abblättert. Als sie vor dem Tor steht, werden Kavita die Beine schwer wie Blei, und als sie hindurchgehen will, kann sie kaum die Füße heben. Sie wendet sich kopfschüttelnd ihrer Schwester zu. » Nai, nai, nai …«, sagt sie immer wieder.
    » Bena , komm, du musst«, sagt Rupa sanft. »Dir bleibt keine andere Wahl. Was willst du sonst machen?« Rupa zieht sie an der Hand zur Tür und klingelt. Kavita starrt auf das rot beschriftete Schild, brennt sich die Buchstaben,die sie nicht entziffern kann und die SHANTI , Frieden, verheißen, ins Gedächtnis ein. Eine ältere bucklige Frau in einem ausgeblichenen orangefarbenen, bedruckten Baumwollsari öffnet die Tür, in der Hand einen kurzstieligen Besen.
    Kavita sieht zu, wie Rupa mit der Frau redet, aber sie hört bloß das Klingeln in ihren Ohren. Wer wird sich um mein Baby kümmern? Die Frau da? Wird sie Usha lieb haben? Kavitas Mund fühlt sich trocken und staubig an. Die alte Frau bedeutet ihnen, ihr ins Haus zu folgen, und führt sie bis ans Ende des Flurs. Eine groß gewachsene Frau in einem blauen Seidensari steht an der Tür des Büros.
    » Shukriya . Danke, Sarla-ji. Bis zum nächsten Mal«, ertönt eine Männerstimme aus dem Büro. Die große Frau wendet sich zum Gehen. In ihrem eleganten Sari und mit den Diamantohrringen wirkt sie in dem Waisenhaus so fehl am Platz wie ein Bengalischer Tiger. Als sie die Schwestern sieht, lächelt sie, nickt kaum merklich und geht dann an ihnen vorbei.
    Im Büro späht ein Mann im mittleren Alter mit vollem schwarzen Haar durch eine Hornbrille angestrengt auf eine Schreibmaschine. »Sahib«, sagt Rupa, »wir haben ein Baby für Ihr Waisenhaus.«
    Der Mann hebt den Blick zur Tür. Seine Augen richten sich zuerst auf Rupa, dann auf Kavita, die hinter ihr steht, und verharrt schließlich auf dem Baby in ihren Armen. »Ja, ja, natürlich. Bitte nehmen Sie Platz. Ich bin Arun Deshpande. Sie müssen eine lange Reise hinter sich haben«, sagt er, als er den derangierten Zustand der beiden Frauen sieht. »Bitte, möchten Sie einen Tee oder ein Glas Wasser?«, fragt er und bedeutet der alten Frau, das Gewünschte zu holen.
    »Danke, ja«, antwortet Rupa für sie beide.

    Diese kleine freundliche Geste bewirkt, dass Kavita anfängt, leise zu weinen, und Tränen zwei Linien über ihre staubigen Wangen ziehen. Sie ist durstig – ja, natürlich ist sie durstig. Ihr Kopf pocht vor Hitze und Hunger. Ihre Füße schmerzen von den Rissen und Blasen, die sie sich auf dem langen Marsch durch die Stadt zugezogen hat. Sie ist erschöpft von der Reise und von der Geburt und von den stundenlangen Wehen davor. Sie hat wenig geschlafen in den vergangenen Tagen. Sie ist von alldem müde und noch mehr von den Blicken, die sie heute in so vielen Gesichtern gesehen hat, Blicke der Scham.
    »Nur ein paar Fragen«, sagt er und nimmt ein Klemmbrett und einen Stift zur Hand. »Der Name des Kindes?«
    »Usha«, sagt Kavita leise. Rupa blickt sie an, mit erschrockener Betroffenheit in den Augen.
    Arun macht sich eine Notiz. »Geburtsdatum?«
    Das sind die letzten Worte, die Kavita deutlich hört. Sie drückt Usha an sich, den Kopf des Babys unter ihrem Kinn, und fängt an, sich langsam zu wiegen. In der Ferne hört sie, wie Rupa dem Mann antwortet. Kavita
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