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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Eltern damit nachmittags einen Tee zuzubereiten. Als es an der Zeit war, einen passenden Ehemann zu finden, tat Kavitas Familie, was sie konnte, um ihr unscheinbares Aussehen auszugleichen. »Denk dran«, ermahnte Rupa ihre Schwester, während sie ihrsorgfältig mit dunklem Kajal den Lidstrich zog, »wenn du ihm gegenübersitzt, heb nur ganz leicht den Blick, nicht so viel, dass du ihm in die Augen schaust, gerade so viel, dass er deine sehen kann.« Ihre Schwester hoffte, Kavita würde den voraussichtlichen Bräutigam mit ihrem besten Trumpf für sich einnehmen, mit ihren auffälligen haselnussbraunen Augen.
    Aber wenn interessierte Familien zu Besuch kamen, fiel Kavita selbst das züchtige Lächeln schwer, das man ihr aufgetragen hatte. Hinterher fand der Junge stets einen Grund, die Kandidatin abzulehnen. Erst nachdem ihre Eltern eine unverhältnismäßig hohe Mitgift zusammengekratzt hatten, konnten sie Kavita einen Mann beschaffen und damit die für sie wichtigste Pflicht erfüllen. Obgleich Jasu mitunter schwierig war, wusste Kavita, dass sie dankbar sein sollte. Andere Ehemänner im Dorf waren faul, schlugen ihre Frauen oder verprassten ihren Verdienst für Alkohol. Und niemand wollte das Schicksal der armen alten Frauen erleiden, die allein lebten, ohne den Schutz eines Mannes.
    Jedes Mal, wenn der Ochsenkarren auf der staubigen Straße durchgerüttelt wird, schießt Kavita ein stechender Schmerz durch den Unterleib. Seit sie und ihre Schwester sich heute Morgen auf den Weg gemacht haben, blutet sie wieder. Sie wischt das Blut, das ihr am Bein hinabläuft, mit ihrem Sari ab, ehe Rupa es bemerkt. Sie weiß, nur wenn sie es zu dem Waisenhaus in der Stadt schafft, hat Usha eine Chance. Usha , Morgendämmerung. Der Name ist ihr in den stillen frühen Morgenstunden eingefallen, nachdem die Hebamme gegangen war. Er hallte in ihrem Kopf, während sie ihre kleine Tochter betrachtete, um sich möglichst jede Einzelheit ihres Gesichts einzuprägen. Alssich die ersten Lichtstrahlen in die Hütte schlichen und die Hähne krähend den Tag begrüßten, gab Kavita ihrer Tochter in aller Stille einen Namen.
    Was ist das doch für eine Macht, denkt sie mit Blick auf das Kind, einem anderen Menschen einen Namen zu geben. Als sie Jasu heiratete, nannte seine Familie sie in Kavita um, weil sie und der Dorfastrologe den Namen passender fanden als Lalita, den einzigen Namen, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Ihr zweiter Vorname und ihr Nachname kamen von ihrem Vater: Die würden ohnehin in die ihres Mannes umgeändert werden. Aber sie nahm es Jasu übel, dass er ihr auch den ersten Vornamen genommen hatte.
    Kavita hat Usha ganz allein ausgesucht, ein geheimer Name für ihre geheime Tochter. Der Gedanke zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht. Dieser eine Tag, den sie allein mit ihrer Tochter verbringen durfte, war kostbar. Obwohl sie erschöpft war, wollte sie nicht schlafen. Sie wollte keinen einzigen Augenblick verpassen. Kavita hielt ihr Baby eng an sich gedrückt, sah zu, wie der kleine Körper sich bei jedem Atemzug hob und senkte, zeichnete die feinen Augenbrauen und die Falten der zarten Haut nach. Sie stillte sie, wenn sie weinte, und in den wenigen Momenten, in denen Usha wach war, erkannte Kavita sich selbst in den unverkennbar goldgefleckten Augen, bei ihrem Kind noch schöner als bei ihr. Sie konnte kaum glauben, dass dieses wunderbare Geschöpf ihr gehörte. Sie erlaubte es sich nicht, über den Tag hinauszudenken.
    Zumindest wird dieses kleine Mädchen leben dürfen – die Chance haben, aufzuwachsen, zur Schule zu gehen, vielleicht sogar zu heiraten und Kinder zu bekommen. Kavita weiß, zusammen mit ihrer Tochter gibt sie alle Hoffnung auf, ihr auf dem Weg des Lebens zur Seite zustehen. Usha wird ihre Eltern niemals kennenlernen, aber sie hat eine Chance auf Leben, und das muss genügen. Kavita streift sich einen der beiden dünnen Silberarmreife, die sie stets trägt, vom schmalen Handgelenk und schiebt ihn Usha über den Fußknöchel. »Verzeih mir, dass ich dir nicht mehr geben kann, beti «, flüstert sie ihrer Tochter auf den flaumigen Kopf.

6
Eine naheliegende Gleichung
    San Francisco, Kalifornien – 1984
Somer

    Somer betrachtet sich stirnrunzelnd im Spiegel. Sie versucht, ihren Rock glatt zu streichen, doch er spannt sich um Taille und Hüften, wo ihre Figur auch nach zwei Monaten noch nicht ganz wieder die alte ist, eine weitere Erinnerung an ihren Verlust. Das blonde Haar hängt ihr schlaff auf
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