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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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erst, wenn es dir passiert. Es ist die stärkste Liebe, die man sich vorstellen kann.«
    Somer spürt einen vertrauten Stich in der Brust. Sie blickt von dem Stethoskop auf, das sie dem Jungen auf den Rücken drückt, und lächelt seine Mutter an. »Er ist ein Glückspilz, dass er Sie hat.« Sie zieht einen Rezeptblock aus ihrer Tasche. »Also, er hat eine ziemlich starke Entzündung im rechten Ohr, aber das andere sieht gut aus, und Brust und Lunge sind auch in Ordnung. Dieses Antibiotikum müsste die Sache im Nu wieder beheben, und heute Nacht sollte er sich schon deutlich besser fühlen.« Sie streicht der Mutter über den Arm, als sie ihr das Rezept reicht.
    Genau deshalb liebt Somer ihre Arbeit. Sie kann in ein Zimmer gehen, wo ein schreiendes Kind und eine ängstliche Mutter warten, und weiß, wenn sie wieder geht, werden sich beide besser fühlen. In ihrem Pädiatrie-Blockpraktikum hatte sie zum ersten Mal ein hysterisches Kind beruhigt, ein zuckerkrankes Mädchen mit kollabierten Venen, dem Blut abgenommen werden musste. Somer hielt der Kleinen die Hand und bat sie, die Schmetterlinge zu beschreiben, die sie sah, wenn sie die Augen schloss. Sietraf gleich beim allerersten Stich eine Vene und hatte das Pflaster aufgeklebt, ehe das Mädchen mit den Flügeln fertig war. Ihre Kommilitonen, die sich mit allen Mitteln vor »Schreiern« zu drücken versuchten, waren beeindruckt. Somer war Feuer und Flamme.
    »Danke, Doctor«, sagt die Mutter sichtlich erleichtert. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich halte das kaum aus, wenn ich nicht weiß, was ihm fehlt. Für mich ist er ein kleines Bündel voller Geheimnisse, und ich lerne ihn jeden Tag ein bisschen mehr kennen.«
    »Keine Sorge«, sagt Somer, die Hand schon am Türknauf. »Das geht allen Eltern so, egal, wie die Kinder zu ihnen kommen. Mach’s gut, Michael.«
    Somer geht zurück in ihr Büro und schließt die Tür, obwohl sie schon zwanzig Minuten zu spät dran ist. Sie legt erst ihre Instrumente auf den Schreibtisch und dann den Kopf. Als sie zur Seite blickt, sieht sie das Plastikmodell eines menschlichen Herzens, das Krishnan ihr geschenkt hat, als sie beide Examen machten.
    »Ich schenke dir mein Herz«, sagte er, aber so, dass es sich nicht so kitschig anhörte, wie es aus dem Mund von jemand anderem geklungen hätte. »Pass gut drauf auf.«
    Es war fast zehn Jahre her, dass sie im mattgelben Licht der Lane Library der medizinischen Fakultät von Stanford zum ersten Mal voneinander Notiz nahmen. Sie waren Abend für Abend dort, und nicht bloß unter der Woche, wenn die Bibliothek in der Regel voll war, sondern auch an Freitagabenden, statt wie andere auszugehen, und tagsüber an den Wochenenden, wenn andere ihre Freizeit genossen. Es gab nur etwa ein Dutzend Lane-Stammgäste: die Fleißigsten, die Lerneifrigsten. Im Rückblick, so wird Somer klar, waren sie diejenigen,die irgendetwas zu beweisen hatten. Alle hielten Somer für eine Außenseiterin. Mit ihrem hippiemäßig übergeschnappten Namen und dem dunkelblonden Haar war es für ihre Kommilitonen einfach, sie als Leichtgewicht abzutun. Diese Art des Vorurteils ärgerte sie. Aber im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, damit klarzukommen. Sie hatte drüber hinweggesehen, wenn ihr Chemielehrer in der Highschool sich bei Versuchen lieber an den Jungen wandte, mit dem sie ein Arbeitsteam bildete. Sie hatte die Sticheleien erduldet, denen sie sich als einziges Mädchen im Mathe-Leistungskurs ausgesetzt sah. Sie war es gewohnt, von anderen unterschätzt zu werden: Sie verwandelte die niedrigen Erwartungen anderer in Energie.
    »Summer, wie der Sommer auf Englisch?«, fragte Krishnan, als sie sich vorstellte.
    »Nur von der Aussprache her.« Sie lächelte. »Es schreibt sich S-o-m-e-r .« Sie wartete, während er darüber nachdachte. Es gefiel ihr, ein bisschen anders zu sein. »Es ist eigentlich ein Nachname. Und du bist … Chris?«
    »Ja. Das heißt, Kris mit K . Das ist die Kurzform von Krishnan, aber du kannst mich Kris nennen.«
    Sie war auf Anhieb hingerissen von seinem britisch klingenden Akzent, der im Vergleich zu ihrem langweiligen kalifornischen Einschlag so weltgewandt klang. Sie hörte es gern, wenn er im Seminar Fragen beantwortete, nicht nur wegen seiner charmanten Aussprache, sondern auch weil seine Antworten ausnahmslos, wunderbar korrekt waren. Manche Kommilitonen hielten ihn für arrogant, aber Somer hatte Intelligenz schon immer verführerisch gefunden. Erst später bemerkte sie seine
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