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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Grübchen, auf der Party bei Gabi im Frühjahr. Somer nippte vorsichtig an ihrem tropischen Rumpunsch. Sie wusste, wie tückisch so ein Drink sein konnte. Kris dagegen hatte offenbar schon etliche Gläser intus, als er sie ansprach.
    »Wie ich höre, hat Meyer dich also auch gefragt, ob du in den Semesterferien bei ihm im Labor arbeiten willst?«, sagte er leicht nuschelnd und beugte sich näher zu ihr, die mit gekreuzten Beinen auf einem weißen Gartenstuhl saß.
    Ihn auch? Somers Herz machte einen kleinen Sprung. Ein Angebot von Professor Meyer war eine der begehrtesten Trophäen im ersten Studienjahr. »Ja, dich auch?«, fragte sie und versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen. Sie spürte förmlich, wie Krishnans Augen auf den winzigen Glöckchen am Ausschnitt ihrer Bauernbluse verharrten, und war froh, dass sie sich noch umgezogen hatte.
    Er schüttelte den Kopf und nahm wieder einen großen Schluck von seinem pinkfarbenen Drink. »Nein, ich bin den Sommer über in Indien. Meine letzte Chance vor dem Blockpraktikum. Meine Mutter reißt mir sonst den Kopf ab.« Als er lächelte, zeigten sich seine Grübchen. Sie spürte ein Prickeln von ihrer Magengrube aus in den Kopf aufsteigen und fragte sich, ob sie schon zu viel Punsch getrunken hatte. Sie unterdrückte den Impuls, die Hand auszustrecken und ihm das zerzauste schwarze Haar glatt zu streichen, das ihm in die Augen fiel und ihn aussehen ließ wie einen kleinen Jungen. Wie er ihr später erzählte, hatten ihn ihre grünen Augen bezaubert, die im Licht der Petroleumfackeln funkelten, und die Art, wie sie über alles lachte, was er an diesem Abend sagte.
    Sie begannen, jeden Abend zusammen zu lernen, fragten sich vor Prüfungen gegenseitig ab, spornten einander an, besser zu werden. Kris genoss es, sich intellektuell mit ihr zu messen, und es schien ihm nichts auszumachen, wenn sie ihn gelegentlich übertraf. Er war eine wohltuende Abwechslung von ihrem letzten Freund, mit demsie zwei Jahre lang erst für den Bachelor und dann für die Aufnahmeprüfung fürs Medizinstudium gebüffelt hatte. Als sie dann die Zulassung für Stanford erhielt und er nicht, hatte er sie postwendend abserviert. Somer hatte Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass nicht sie deshalb ein schlechtes Gewissen haben musste.
    Sosehr sie die intensive gemeinsame Studienzeit mit Kris genoss, liebte sie doch am meisten seine sanfte Seite: wenn sie nachts zusammen im Bett lagen und er ihr von seinen Brüdern daheim erzählte, die er vermisste, oder von den Spaziergängen mit seinem Vater am Meer. »Wie ist es da?«, fragte sie ihn oft. Indien klang faszinierend. Sie stellte sich hohe schwankende Kokospalmen vor, warme tropische Winde und exotische Früchte. Sie war nur einmal im Ausland gewesen, in Kanada, zu Besuch bei ihren Großeltern. Sie hatte sich immer so eine große Familie gewünscht wie die, von der Krishnan erzählte: die beiden Brüder, zu denen er ein enges Verhältnis hatte, die zahllosen Cousins, die auf Familientreffen spontan zusammen Cricket spielten. Als Einzelkind hatte Somer zu ihren Eltern zwar eine besondere Bindung, aber sie wurde trotzdem das Gefühl nicht los, dass ihr mit diesem Zusammenhalt unter Geschwistern etwas entgangen war.
    Diese ersten Jahre des Medizinstudiums verliefen herrlich unkompliziert, eingebunden in einen engen Freundeskreis, mit dem sie fast ständig zusammen waren. Sie alle verfolgten dasselbe Ziel und als Studenten hatten sie alle den gleichen bescheidenen Lebensstil. Sie lernten ständig, und ihre ganze Welt endete an den Grenzen des Stanforder Campus. Vietnam war vorbei, Nixon war out und die freie Liebe war in. Somer investierte Stunden, um Kris das Fahren auf der rechten Straßenseite beizubringen. Später gestand er, wie dankbar er ihr gewesen war, dass ersich bei ihr nie für sein Anderssein schämen musste. Aber ihrer Ansicht nach gab es zwischen ihnen weniger Unterschiede als Gemeinsamkeiten: Sie war eine Frau in einer Männerwelt, er war ein Fremder in Amerika. Außerdem waren sie beide in erster Linie hart arbeitende Medizinstudenten.
    Als sie ihre erste Prüfung ablegten, war Somer bis über beide Ohren verliebt. Es war das Erste, was ihr im Leben passiert war, ohne dass sie sich dafür großartig hatte anstrengen müssen. Schon bald waren ihre beiden Leben so miteinander verwoben, dass Somer sich eine Zukunft ohne Krishnan nicht mehr vorstellen konnte. Schließlich nahte das Ende des Studiums und damit der Beginn der
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