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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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im Schneidersitz in einer Reihe nebeneinander, schliefen Seite an Seite auf Strohmatten. Ihre Leben erschienen einfach, aber erfüllt und glücklich. Ich wollte darüber kein Urteil fällen, sondern daran glauben, was man mir gesagt hatte: Die Kinder hatten Glück, dass sie dort sein konnten, es war besser, als auf der Straße zu leben. Trotzdem konnte ich nicht vermeiden, daran zu denken, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren und was passieren würde, wenn sie sechzehn werden würden und das Waisenhaus verlassen müssten.
    Da ich in Nordamerika aufgewachsen und immer wieder nach Indien gereist bin, war mir die Ungleichheit, mit der die Frauen dort kämpfen mussten, immer bewusst, auch wenn das in meiner eigenen Familie nicht so sehr zu spüren war. Eines der beunruhigendsten Zeugnisse davon ist Indiens zahlenmäßige Unausgewogenheit von Männern und Frauen. In den meisten Teilen der Welt kommen auf 100 Männer 105 Frauen; in Indien sind es weniger als 93. Die anerkannte Erklärung für diese Schieflage ist Abtreibung und Tötung weiblicher Babys. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieselben Entwicklungen in der Medizintechnik, wie die weite Verbreitung von Ultraschall und die immer sichereren Abtreibungen, die im Westen den Frauen zur sexuellen Befreiung verhalfen, im Osten ihr Leben bedrohen. Den Vereinten Nationen zufolge wird in Indien auf diese Weise pro Jahr eine halbe Million Mädchen getötet. In der Konsequenz fehlen fünfzig Millionen Mädchen und Frauen in Indiens Bevölkerung. Fünfzig Millionen.
    Dieses Jahr wird Yashoda zwanzig Jahre alt. Das aufgeweckte kleine Mädchen, das ich in meinem Kopf habe und auf Fotos sehe, ist jetzt vollkommen erwachsen. Ich habe mich oft gefragt, was aus ihr geworden ist, aber ich weiß, ihre Chancen sind nicht besonders hoch. Es gibt wenig Hoffnung, dass sie eine solide Ausbildung, einen guten Job bekommen hat, ein selbstständiges Leben führt, wenn sie überhaupt überlebt hat.
    Diese Gedanken gingen mir lange Zeit durch den Kopf und bildeten allmählich die Grundlage für Geheime Tochter . Welcher Anteil unseres Lebens ist vorherbestimmt – durch unser Geschlecht, die soziale Schicht, die Kultur, in die wir hineingeboren werden? Zu welchem Anteil liegt es in unserem Vermögen, etwas zu ändern? Zu der Zeit, als ich mich endlich hinsetzte und diese Geschichte schrieb, waren schon viele Jahre vergangen seit jenem Sommer im Waisenhaus. Wie viele andere sehe ich die Welt nun aus einem veränderten Blickwinkel, durch die Augen eines Elternteils.
    Diese Geschichte erzählt, wie Yashodas Leben hätte verlaufen können – und das Millionen anderer von Indiens vergessenen Töchtern. Vielleicht hat es Yashoda, allen Widrigkeiten zum Trotz, doch geschafft. Vielleicht werde ich eines Tages auf der Straße oder in einem vorstädtischen Einkaufszentrum an ihr vorbeigehen, ohne es zu merken. Das fände ich schön.
    Von Shilip Somaya Gowda

Lesekreise
    Lesekreise sind seit vielen Jahren ein wichtiger Teil meines Lebens. Meine erste Gruppe bestand aus Kommilitonen, die ich an der Universität in Kalifornien kennengelernt habe. Über ein Dutzend Jahre lang haben wir Bücher unterschiedlichster Art gelesen, von einer Biografie der Roosevelts bis zur Harry-Potter-Reihe. Bücher haben es uns ermöglicht, unsere Lebensentwürfe zu hinterfragen und über uns selbst und die Welt jenseits unseres Alltags nachzudenken, uns selbst zu betrachten im Kontext früherer Generationen und anderer Kulturen. Das ist die wichtigste Rolle, die Kunst im Leben spielen kann: eine Plattform zu bieten, die das Nachdenken anregt und die Suche nach Verbindungen fördert.
    Über die Jahre habe ich an weiteren Lesekreisen teilgenommen, und obwohl jeder anders ist, haben sie doch alle etwas gemeinsam: eine Offenheit und einen Willen, auf den anderen einzugehen, eine Lust am Denken und Diskutieren – und auf diese Weise unser eigenes Leben mit der Welt zu verbinden. Ich hoffe, Geheime Tochter kann auch in Ihrem Lesekreis dazu beitragen.
    Leitfaden für Diskussionen
    Auf dem Weg zu dem Waisenhaus in Bombay denkt Kavita darüber nach, »welche Kraft darin liegt, einem anderen Lebewesen einen Namen zu geben«. Sie gibt ihrer Tochter bei der Geburt den Namen Usha, aber später wächst sie bei ihren Adoptiveltern unter dem Namen Asha auf. Kavitas Name ändert sich, als sie heiratet. Ihr Vorname erscheint später in der Geschichte erneut. Sogar Krishnan ist in Amerika für alle nur »Kris«. Was ist der
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