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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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denkt, ich bin fast so weit.« Ein langsames Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Ihre erste Reise nach Indien hat sie für Asha gemacht. Ihre zweite für Krishnan. Die nächste macht sie vielleicht für sich selbst. »Wir könnten eine Familienreise draus machen.«
    »Ja«, sagt Asha, »das wäre toll.«
    »Allerdings« – Somer streckt die Hand aus und tätschelt Kris den Bauch – »wirst du dich vorher ein bisschen besser in Form bringen müssen, wenn du mit uns Schritt halten willst.« Sie lachen alle.
    Asha reckt die Arme über den Kopf und gähnt. »Mir graut ein bisschen vor dem Flug«, sagt sie. »Siebenundzwanzig Stunden? Das ist das erste Mal, dass wir auf so engem Raum so viel Zeit zusammen verbringen.« Sie deutet auf Somer zu ihrer Linken und auf Kris zu ihrer Rechten.
    »Nein, das stimmt nicht«, sagt Somer. Kris späht über seine Gleitsichtbrille, und Asha sieht sie stirnrunzelnd an. »Ich glaube, vor rund zwanzig Jahren sind wir drei schon mal dieselbe Strecke geflogen.«
    Krishnan lacht leise auf. Asha lächelt und versetzt ihr einen spielerischen Stoß gegen die Schulter.

    Im Flugzeug lehnt Somer sich in ihrem Sitz zurück und schaut durchs Fenster zu, wie die flimmernden Lichter Mumbais in der dunklen Nacht entschwinden. Auf dem Sitz neben ihr ist Asha bereits eingeschlafen. Kopf und Kissen auf Somers Schoß, die Füße auf Krishnans. Sie sollten beide versuchen, ebenfalls zu schlafen, aber sie weiß, dass Krishnan genau wie sie Asha nicht stören möchte. Er streckt Somer die Hand hin, und sie nimmt sie. Sie legen ihre ineinander verschlungenen Hände auf Ashas schlafenden Körper zwischen sich, genau wie damals, als sie diese Reise das erste Mal machten.

60
Es war gut
    Mumbai, Indien – 2009
Jasu

    Er hält den abgegriffenen Zettel fest in der Hand und versucht, die Buchstaben darauf mit denen auf dem roten Schild an der Tür vor ihm zu vergleichen. Mehrmals blickt er zwischen Zettel und Tür hin und her, um sich auch ja nicht zu vertun. Erst als er ganz sicher ist, drückt er auf den Klingelknopf, und im Innern schrillt eine Glocke. Er wartet, fährt dabei mit der flachen Hand über die Messingtafel neben der Tür, spürt die erhabenen Lettern mit den Fingern. Als sich die Tür plötzlich öffnet, zieht er die Hand zurück und gibt der jungen Frau, die vor ihm auftaucht, einen anderen Zettel. Sie liest, was darauf steht, blickt ihn an und tritt zurück, um ihn hereinzulassen.
    Mit einer leichten Kopfbewegung bedeutet sie ihm, ihr den Flur entlang zu folgen. Er vergewissert sich, dass ihm das Hemd unter dem Bauchansatz nicht aus der Hose gerutscht ist, und fährt sich mit den Fingern durch das grau melierte Haar. Die junge Frau betritt ein Büro, gibt jemandem da drin den Zettel und zeigt dann auf einen Stuhl. Er folgt ihr hinein, nimmt Platz und faltet die Hände.
    »Ich bin Arun Deshpande.« Der Mann hinter dem Schreibtisch mustert ihn durch eine dünne Brille. »Mr Merchant, nicht wahr?«
    »Ja«, sagt Jasu und räuspert sich. »Jasu Merchant.«
    »Sie suchen also jemanden.«

    »Ja, wir – meine Frau und ich –, wir wollen keine Umstände machen. Wir wollen bloß wissen, was aus einem kleinen Mädchen geworden ist, das vor fünfundzwanzig Jahren hier abgegeben wurde. Sie hieß Usha. Merchant. Wir wollen bloß wissen, ob sie … na ja, wir wollen wissen, was aus ihr geworden ist.«
    »Warum jetzt, Mr Merchant? Nach fünfundzwanzig Jahren, warum jetzt?«, fragt Arun.
    Jasu merkt, dass sein Gesicht rot anläuft. Er blickt nach unten auf seine Hände. »Meiner Frau«, sagt er leise, »geht es nicht gut …« Er denkt an Kavita, die zu Hause im Bett liegt, vom Fieber geschüttelt, im Delirium immer wieder dieselben Worte flüstert: »Usha … Shanti … Usha .« Zuerst dachte er, sie würde beten, bis sie eines Nachts seine Hand umklammerte und sagte: »Geh sie suchen.« Nach einem Anruf bei Rupa erfuhr er, was vor fünfundzwanzig Jahren wirklich geschehen war, und verstand, was Kavita von ihm wollte. Jetzt findet er die richtigen Worte zur Erklärung. »Ich möchte ihr etwas Frieden geben, bevor es zu spät ist.«
    »Natürlich. Sie müssen verstehen, Vorrang hat für uns der Schutz der Kinder, auch dann noch, wenn sie erwachsen sind. Aber ich werde Ihnen sagen, was ich weiß.« Er zieht eine Aktenmappe aus seiner Schreibtischschublade. »Vor ein paar Jahren war eine junge Frau hier. Sie heißt jetzt Asha.«
    »Asha«, sagt Jasu und nickt bedächtig mit dem Kopf. »Dann lebt sie
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