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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie
Autoren: John le Carré
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Cromwell.
    * * *
    Das zweite nachgewiesene Zeichen erhielt ich einen Abend sp äter, am Dienstag. Ich hatte einen vierstündigen Einsatz zum Schutze unserer großen Nation hinter mir und war auf dem Heimweg nach Battersea, als ich zu meiner eigenen Verblüffung drei Stationen zu früh aus dem fahrenden Bus sprang und wie ein Wilder lossprintete, nicht quer durch den Park zum Prince of Wales Drive, was die logische Richtung gewesen wäre, sondern über die Brücke zurück nach Chelsea, von wo ich soeben gekommen war.
    Warum, um Himmels willen? Gut, ich bin impulsiv. Aber was trieb mich da? Es war mitten im schlimmsten Sto ßverkehr. Schon in normalem Tempo neben gestauten Autos herzugehen ist mir ein Greuel, gerade heutzutage. Diese Blicke hinter den Scheiben hervor, das ist etwas, dem ich mich nicht aussetzen muß. Aber zu rennen, in meinen besten Stadtschuhen mit Ledersohlen und Lederabsätzen mit Außenkanten aus Gummi, ein Mann in meinem Alter, mit meiner Hautfarbe und Statur und einem Aktenkoffer in der Hand – zu rennen, ohne um Hilfe zu rufen, in einem Affenzahn, manisch geradeaus schauend, Passanten anrempelnd vor lauter Eile – diese Art zu rennen ist zu jeder Tageszeit eine Verrücktheit. Und in der Stoßzeit schlechterdings selbstmörderisch.
    Brauchte ich Bewegung? Keineswegs. Penelope hat ihren Privattrainer, ich habe meinen Morgenlauf im Park. Die einzige Erkl ärung, die ich mir für mein Verhalten liefern konnte, als ich den belebten Gehsteig entlang und über die Brücke jagte, war das angststarre Kind, das ich vom Oberdeck des Busses aus gesehen hatte. Es war ein Junge, sechs oder sieben, und er klebte auf halber Höhe an der Granitmauer, die die Straße vom Fluß trennt, mit den Fersen zur Wand, Arme ausgebreitet, das Gesicht seitwärts gedreht, weil er viel zu sehr Angst hat, um nach unten oder nach oben zu schauen. Unter ihm braust der Verkehr, und über ihm ist eine schmale Brüstung, wie geschaffen für ältere Jungen, die angeben wollen, und zwei sind jetzt eben dort oben und rufen höhnisch zu ihm hinunter, tänzeln herum und pfeifen und fordern ihn auf, doch raufzuklettern, wenn er sich traut. Aber er kann nicht, weil seine Höhenangst noch viel größer ist als die Angst vor den Autos und weil er weiß, daß es auf der anderen Seite, wenn er je oben ankäme, zwanzig Meter tief hinuntergeht zum Treidelpfad und zum Fluß, und ihm ist schwindlig, und er kann nicht schwimmen, deshalb renne ich, was das Zeug hält.
    Aber als ich die Stelle erreiche, schwei ßgebadet, keuchend, was sehe ich? Kein Kind, erstarrt oder nicht erstarrt. Und die Örtlichkeit hat eine Verwandlung durchgemacht. Keine Granitbrüstung. Keine schwindelerregende Gratwanderung mit dahinbrausenden Autos auf der einen Seite und der schnellfließenden Themse auf der anderen. Und mitten auf der Kreuzung eine mütterliche Polizistin, die den Verkehr regelt.
    »Sie dürfen mich nicht ansprechen, junger Mann«, sagt sie, indem sie den Arm hebt.
    »Haben Sie drei Kinder gesehen, die hier grade herumgekraxelt sind? Absolut lebensgefährlich.«
    »Hier nicht, junger Mann.«
    »Ich hab sie gesehen, ich schwör’s Ihnen. So ein Kleiner, der an der Mauer da feststeckte.«
    »Ich werd Sie gleich festnehmen müssen, junger Mann. Los, ziehen Sie ab.«
    Also zog ich ab. Ich ging zur ück über die Brücke, die ich gar nicht erst hätte überqueren sollen, und den ganzen Abend über, während ich darauf wartete, daß Penelope heimkam, ließ mich dieser angststarre Junge in seiner selbstgemachten Hölle nicht los. Und am Morgen, als ich auf Zehenspitzen ins Bad schlich, um sie nicht zu wecken, verfolgte er mich immer noch, der Junge, der nicht da war. Und während ich den Tag hindurch für ein niederländisches Diamantenkonsortium dolmetschte, spukte er mir weiter im Kopf herum, in dem von mir unbemerkt auch sonst eine Menge vorging. Und er spukte nach wie vor dort drinnen, die Arme ausgestreckt, die Fingerknöchel gegen die Granitmauer gepreßt, als ich mich am Abend darauf um 19.45 Uhr auf dringendes Ersuchen des Nordlondoner Bezirkskrankenhauses in der Abteilung für Tropenkrankheiten einfand, wo ein sterbender Afrikaner unbestimmbaren Alters sich weigerte, auch nur ein Wort in irgendeiner Sprache zu sprechen, die nicht sein heimatliches Kinyarwanda war.
    * * *
    Blaue Nachtlichter haben mich durch endlose Korridore geleitet. Schmucke Wegweiser haben mir verraten, welchem Gang ich folgen mu ß. Um einzelne Betten sind Vorhänge gezogen, das
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