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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie
Autoren: John le Carré
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übersetze.
    Kann Jean-Pierre mich nicht h ören oder zieht er es vor, keinen Nachnamen zu haben? Die Pause, in der wir auf seine Antwort warten, gibt uns Gelegenheit zu unserem ersten langen Blick, oder zumindest einem Blick, der zu lange w ährt für ein bloßes Sich-Vergewissern, daß der andere auch zuhört – zumal wir beide schweigen, und Jean-Pierre sowieso.
    »Fragen Sie ihn bitte, wo er wohnt«, sagt sie, wobei sie ihre Kehle diskret freiräuspert von einer Beklemmung, wie auch ich sie verspüre, nur daß sie mich diesmal zu meiner Überraschung und meinem Entzücken als Landsmann anspricht, auf Swahili. Und als wäre das noch nicht Glückes genug, spricht sie mit dem köstlich vertrauten Akzent des Ostkongo!
    Aber ich bin zum Arbeiten hier. Die Schwester hat unserem Patienten eine Frage gestellt, also mu ß ich sie übersetzen. Das tue ich. Und dann übersetze ich seine Antwort darauf, übersetze sie aus Jean-Pierres Kinyar-wanda direkt in Hannahs tiefbraune Augen, in ein Swahili, dem ich fast ums Haar die gleiche Färbung verleihe, wie ihres sie hat.
    »Ich wohne auf der Hampsteader Heide«, teile ich ihr mit und wiederhole Jean-Pierres Worte so exakt, als wären es unsere eigenen, »unter einem Busch. Und dahin gehe ich zurück, wenn ich rauskomme aus diesem« – Pause – »Loch« – das Epitheton, das er diesem Loch verleiht, unterschlage ich aus Anstandsgründen lieber. »Hannah«, fahre ich fort, auf Englisch nun, vielleicht um ein klein wenig Druck wegzunehmen. »Bitte. Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«
    Worauf sie mir ohne das geringste Z ögern ihre Stammeszugehörigkeit nennt: »Ich bin aus der Gegend von Goma in Nord-Kivu, vom Stamm der Nande «, antwortet sie. »Und dieser arme Ruander ist der Feind meines Volkes.«
    Und es ist die Wahrheit, die reine, ungeschminkte Wahrheit, da ß ihr rasches Einatmen dabei, ihre sich ganz leicht weitenden Pupillen, dieser dringliche Appell an mein Verständnis, vor meinen Augen schlagartig die ganze Tragödie ihres geliebten Kongo erstehen läßt: die abgezehrten Leichname ihrer Angehörigen und Freunde, die unbestellten Felder und toten Herden und niedergebrannten Städte, die einmal ihr Heimatland waren, bis die Ruander über die Grenze einfielen, den Ostkongo zum blutigen Schlachtfeld ihres Bürgerkriegs machten und unsagbare Greuel über ein Land hereinbrechen ließen, das auch so schon vor die Hunde ging.
    Erst wollten die Eindringlinge nur die g énocidaires zur Strecke bringen, die binnen hundert Tagen von Hand eine Million ihrer Landsleute ermordet hatten. Aber aus einer hitzigen Verfolgungsjagd wurde schon bald eine fröhliche Balgerei um die Bodenschätze Kivus, worauf das Land, das zuvor schon auf der Kippe gestanden hatte, endgültig im Chaos versank – wie ich verzweifelt Penelope zu erklären versuchte, die es als gewissenhafte britische Mainstream-Journalistin lieber hat, nur das zu wissen, was alle anderen auch wissen. Liebling, sagte ich, hör zu, ich weiß, daß du viel um die Ohren hast. Ich weiß, daß deine Zeitung ihre Leser nicht verschrecken will. Aber ich bitte dich, ich flehe dich an, schreibt darüber, ausnahmsweise, damit die Welt erfährt, was sich im Ostkongo abspielt. Über vier Millionen Tote, beschwor ich sie. Allein in den letzten f ünf Jahren. Die Menschen nennen es Afrikas Ersten Weltkrieg, und ihr nennt es gar nichts. Und denk nicht, es wäre ein ordinärer Piff-Paff-Krieg. Es sind nicht Kugeln und pangas und Handgranaten, die das Töten besorgen. Es sind Cholera, Malaria, Durchfall und der gute altmodische Hungertod, und die meisten Opfer sind unter fünf. Und sie sterben immer weiter, zu Tausenden, jeden Monat. Da muß doch eine Story drinsein. Ja, es war eine drin. Auf Seite 29, neben dem Kreuzworträtsel.
    Wie war ich an meine unbehaglichen Erkenntnisse gekommen? Indem ich tiefnachts wach im Bett lag und darauf wartete, da ß Penelope endlich heimkam. Indem ich den BBC-World-Service und obskure afrikanische Radiosender hörte, während sie nächtliche Abgabefristen einhielt. Indem ich allein in Internet-Cafés herumsaß, während sie ihre Informanten zum Essen ausführte. Aus heimlich gekauften afrikanischen Zeitschriften. Von Kundgebungen, bei denen ich in dickem Parka und Pudelmütze ganz hinten stand, während sie bei Wochenendseminaren auffrischen ließ, was immer gerade der Auffrischung bedurfte.
    Aber die verstohlen g ähnende Grace, rechtschaffen müde so kurz vor Schichtende, weiß all dies nicht, und wie
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