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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie
Autoren: John le Carré
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sollte sie? Sie hat nicht das Kreuzworträtsel gemacht. Darum kann sie auch nicht wissen, daß Hannah und ich soeben an einem symbolischen Akt der Versöhnung teilhaben. Vor uns liegt ein sterbender Ruander, der sich Jean-Pierre nennt. An seinem Bett sitzt eine junge kongolesische Frau namens Hannah,
    die dazu erzogen worden ist, in Menschen wie JeanPierre die alleinig Schuldigen am Elend in ihrer Heimat zu sehen. Aber kehrt sie ihm deshalb den R ücken? Ruft sie nach einer Kollegin oder überläßt sie ihn der gähnenden Grace? Sie tut nichts dergleichen. Sie nennt ihn diesen armen Ruander und hält seine Hand.
    »Fragen Sie ihn bitte, wo er vorher gewohnt hat,  Salvo«, sagt sie förmlich in ihrem frankophonen Englisch.
    Und wieder warten wir oder vielmehr, Hannah und ich blicken einander an, mit der benommenen, entk örperlichten Ungläubigkeit zweier Menschen, die einer himmlischen Vision teilhaftig werden, sie beide ganz allein, denn nur sie beide haben Augen zu sehen. Aber Grace ahnt etwas. Grace verfolgt den Fortgang unserer Beziehung jetzt mit nachsichtigem Interesse.
    »Jean-Pierre, wo haben Sie gewohnt, bevor Sie unter Ihren Busch gezogen sind?« frage ich mit der gleichen bewußten Geschäftsmäßigkeit wie Hannah.
    Gef ängnis.
    Und vor dem Gef ängnis?
    Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, ehe er mir eine Londoner Adresse und Telefonnummer nennt, aber er nennt sie, und ich übersetze sie für Hannah, und Hannah langt sich wie schon einmal hinters Ohr, bevor sie sie mit dem Filzstift in ihren Notizblock schreibt, das Blatt dann herausreißt und es an Grace weiterreicht, die sich zwischen den Betten des Saals hindurchschlängelt, um zu telefonieren – nur ungern, denn jetzt möchte sie nichts verpassen. Worauf unser Patient, hochfahrend wie aus einem bösen Traum, sich kerzengerade hinsetzt mit all seinen Schläuchen im Leib und mit der ganzen Grobheit und Drastik seines heimatlichen Kinyarwanda wissen will, was ihm verfickt noch mal fehlt und warum die Polizei ihn gegen seinen Willen hierherverfrachtet hat. Und an diesem Punkt bittet mich Hannah, auf Englisch und mit einer Stimme, die nun doch eine Spur br üchig klingt, ganz genau wiederzugeben, was sie gleich zu ihm sagen wird, wortwörtlich, ohne irgend etwas hinzuzufügen oder wegzulassen, auch wenn Sie es aus Rücksicht auf unseren Patienten gern täten, Salvo – unser Patient, diese Vorstellung beherrscht uns längst beide zur Gänze. Und mit nicht minder brüchiger Stimme versichere ich ihr, daß es mir nie einfallen würde, irgendeine Aussage von ihr zu beschönigen, so hart es mich auch ankommen mag.
    »Wir haben nach dem Urkundsbeamten geschickt, und er kommt, so schnell er kann.« Hannah spricht sehr betont und läßt zwischendurch – mit deutlich mehr Verstand als das Gros meiner Klienten – Pausen, damit ich Zeit habe zum Übersetzen. »Ich muß Ihnen mitteilen, Jean-Pierre, daß bei Ihnen eine akute Entgleisung der Blutwerte vorliegt, die meiner Einschätzung nach zu weit fortgeschritten ist, als daß wir noch etwas tun könnten. Es tut mir sehr leid, aber das ist die Situation, und wir müssen sie akzeptieren.«
    Und doch ist ihr Blick voll Hoffnung bei diesen Worten, voll klarem, freudigem Glauben an eine Erl ösung. Wenn Hannah mit einer so schlimmen Nachricht fertig wird, sagt dieser Blick, dann kann auch JeanPierre damit fertig werden, und ich kann es erst recht. Und als ich ihre Botschaft annähernd wiedergegeben habe – wortwörtlich geht derlei nur in der Vorstellung der Laien, da kaum ein Ruander vom Bildungsstand dieses armen Mannes mit Begriffen wie »akute Entgleisung der Blutwerte« etwas anfangen kann –, läßt sie ihn durch mich wiederholen, was sie gerade gesagt hat, damit sie weiß, daß er es weiß, und er es auch weiß und ich weiß, daß sie beide es wissen, so daß keiner mogeln kann.
    Und als Jean-Pierre ihre Botschaft m ürrisch wiederholt hat und ich sie zurückübersetzt habe, fragt sie mich: Hat Jean-Pierre irgendwelche Wünsche, während er darauf wartet, daß seine Angehörigen kommen? Womit sie ihm, wie wir beide wissen, verdeckt zu verstehen gibt, daß er höchstwahrscheinlich sterben wird, ehe sie da sind. Was sie nicht fragt, und ich somit auch nicht, das ist, wieso er im Freien kampiert hat, statt heimzugehen zu Frau und Kindern. Aber solch persönliche Fragen verletzen ihrem – und auch meinem – Gefühl nach seine Intimsphäre. Denn warum sollte ein ruandischer Mann sich zum Sterben unter einen
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