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Gefürchtet

Titel: Gefürchtet
Autoren: Heyne
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Trainingstour auf einer Bergstraße hatte seinem besten Freund das Leben gekostet und Jesses Zukunft zerstört, bevor er wusste, wie ihm geschah.
    »Ich habe Neuigkeiten«, sagte er.
    Ich nahm der Barkeeperin den Kaffeebecher ab. »Ich auch.«
    »Ich zuerst.« Er trat an ei nen Tisch, balancierte sich mit den Krücken aus und setzte sich. »Ich hab heute Abend mit Lavonne gegessen.«
    Ich musterte ihn betont auffällig von Kopf bis Fuß. Seine Kakihose hatte am Knie einen Riss, und sein T-Shirt warb für Santa Barbaras bestes Surfboard-Produkt: Mr. Zog’s Sex Wax.
    »Du hast es offenbar nicht nötig, dich bei dei nem Boss einzuschleimen«, stellte ich fest.
    Lavonne Marks war geschäftsführende Partnerin von Sanchez
Marks, der Kanz lei, bei der Jesse als Anwalt arbeitete. Halb Hellfire-Rakete, halb fürsorgliche Mutter, verzieh sie ihm das zottelige Haar und den Piratenohrring, solange er seine Gegner im Kreuzverhör zerriss und ein anständiges Mittagessen zu sich nahm. Ich setzte mich.
    »Sie wird dir einen Job anbieten«, sagte er.
    Die Band stürzte sich in eine neue Nummer. Der Gitarrist legte los wie ein Rennwagen, und der Schlag zeuger drosch auf die Becken ein. Ich starrte Jesse an.
    »Vollzeit?«, fragte ich.
    »Du arbeitest doch jetzt schon zwanzig Stunden pro Woche für die Kanzlei.«
    »Davon aber nur fünf im Büro.«
    Ansonsten verfasste ich Schriftsätze, erschien vor Gericht und fungierte gelegentlich als Zustellbeauftragte. Vollzeit bedeutete ein eigenes Büro mit Ausblick über die roten Ziegeldächer. Krankenversicherung, Pensionsplan, Visitenkarten.
    »Als Partnerin?«, hakte ich nach.
    »Vielleicht in drei Jahren.«
    Anwältin in derselben Kanzlei wie der Mann, den ich liebte. Fünfzig gemeinsame Stunden pro Woche.
    Ich musterte ihn in dem bernsteinfarbenen Licht des Lokals. »Lavonne hat dich zuerst gefragt, weil sie nicht wusste, ob du was dagegen hast.«
    »Hab ich nicht.«
    Vollzeit. Kostüme in gedeckten Farben. Nylonstrumpfhosen. Schluss mit meiner Arbeit für juristische Fachjournale. Meine Schriftstellerei würde sich auf die eine oder andere Stunde am Wochenende beschränken müssen.
    »Ich habe eben die Druckfahnen für Chromium Rain bekommen«, sagte ich.

    »Du schreibst doch immer nachts. Daran wird dich kei ner hindern.«
    »Aber - die Biografie. Das wäre ein Vollzeitprojekt.«
    »Die schreibst du sowieso nicht. Die Unterlagen von Jax und Tim liegen seit sechs Monaten in deinem Bankschließfach.«
    Das war auch das Einzige, was ich im Augenblick auf der Bank hatte.
    »Ich überleg es mir«, versprach ich.
    Aber stattdessen dachte ich über Jesse nach. Wir hatten unsere Hochzeit kurz vor dem Termin verschoben. Traumatische Ereignisse hatten einen Keil zwischen uns getrieben. Der Mann, der Jesse über den Haufen gefahren und dann die Flucht ergriffen hatte, hatte mit allen Mitteln um seine Freiheit gekämpft. Ich hatte Dinge über Jesses Vergangenheit erfahren, mit denen ich mich nicht auseinandersetzen wollte. Und in ihm war der Verdacht aufgestiegen, ich sei eine selbstgerechte Märtyrerin, die nach seiner Wirbelsäulenverletzung nur aus Mitleid bei ihm geblieben war. Wir waren so wütend aufeinander gewesen, dass wir beschlossen hatten, den entscheidenden Schritt zu vertagen und von vorn zu beginnen.
    Mir war ein Stein vom Herzen gefallen. Aber Jesse hatte einfach zu viel verloren und versank in einem emotionalen Strudel. Er schien nicht nur mir zu entgleiten, sondern seiner gesamten Umwelt. Und dieses Problem würde sich nicht dadurch lösen lassen, dass wir Seite an Seite arbeiteten.
    Er schlang sei ne Hände um den Kaffeebecher. »Das ist ein Job, keine Gefängnisstrafe.«
    »Ich weiß.«
    »Und warum siehst du dann aus, als wolltest du dich nach Mexiko absetzen?«

    Ein wirklicher Neuanfang war nicht möglich, dafür kannte er mich zu gut. Gerade wollte ich mit einer schnippischen Bemerkung kontern, als sich sein Gesicht verzerrte und er die H andknöchel g egen seine Lendenwirbelsäule p resste. Er biss sich auf die Unterlippe und versuchte, den Schmerz von sich abperlen zu lassen. Ich wartete. Es gab nichts, was ich hätte tun können.
    »Und was hast du für Neu igkeiten?«, fragte er.
    Gott bewahre mich vor Menschen mit guten Absichten, sagt mein Vater immer. In den Tagen, die auf diesen Abend folgten, sollte ich mich immer wieder daran erinnern, aber in diesem Augenblick, als ich Jesse den Kampf gegen den Schmerz verlieren sah, beschloss ich, ihm die Geschichte zu
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