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Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder

Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder

Titel: Gefährlicher Fremder - Rice, L: Gefährlicher Fremder
Autoren: Lisa Marie Rice
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Gestalt. Es kümmerte ihn nicht. Er war schon immer unsichtbar gewesen. Unsichtbar zu sein hatte ihm geholfen zu überleben.
    Das Wetter verschlechterte sich. Der Wind blies ihm eisige Graupelnadeln in die Augen, sodass er sie zu schmalen Schlitzen zusammenkneifen musste.
    Ganz egal. Er verfügte über einen ausgezeichneten Orientierungssinn und hätte den Weg nach Greenbriars auch mit verbundenen Augen gefunden.
    Mit gesenktem Kopf, die Arme um seinen Körper geschlungen, um das bisschen Wärme zu bewahren, das er im Obdachlosenheim hatte aufnehmen können, ließ Ben langsam die düsteren, unfreundlichen Gebäude hinter sich, die diesen Teil der Stadt charakterisierten. Kurz darauf wurden die Straßen breiter und verwandelten sich in von Bäumen gesäumte Alleen. Die alten Ziegelhäuser machten eleganten modernen Gebäuden aus Glas und Stahl Platz.
    Nicht ein einziges Auto fuhr an ihm vorbei, dafür war das Wetter zu schlecht. Niemand war unterwegs. Unter seinen Füßen knackte der zu Eis gefrierende Niederschlag.
    Er war fast da. Die Häuser hier, in dieser wohlhabenden Gegend, waren groß. Geräumig, stattlich, mit sanft geneigten Rasenflächen, die zurzeit von Schnee und Eis bedeckt waren.
    Für gewöhnlich nahm er den Weg durch die Seitenstraßen, unsichtbar wie immer. Jemand wie er an diesem Ort der Reichen und Mächtigen würde auf der Stelle von der Polizei aufgegabelt werden, deshalb zog er an normalen Tagen die Seitenstraßen vor. Doch heute waren die Straßen menschenleer, und er lief unverhohlen über die breiten Gehwege.
    Sonst brauchte er zu Fuß eine halbe Stunde bis Greenbriars, aber heute hielten ihn die eisglatten Wege und der starke Wind auf. Eine Stunde nach Verlassen des Heims war er immer noch unterwegs. Er war stark, doch Hunger und Kälte zehrten an ihm. Seine Füße, in ihren löchrigen Schuhen, waren gefühllos.
    Musik erklang, so leise zunächst, dass er sich fragte, ob er vor Kälte und Hunger schon halluzinierte. Töne schwebten durch die Luft, als ob der Schnee sie trüge.
    Er bog um die Ecke, und da war es – Greenbriars. Carolines Zuhause. Sein Herz klopfte, als er es durch Schnee und Nebel hindurch erblickte. Es klopfte immer, wenn er herkam, genauso wie es immer klopfte, wenn sie in der Nähe war.
    Normalerweise nahm er den Hintereingang, wenn ihre Eltern auf der Arbeit und Caroline und ihr Bruder in der Schule waren. Das Hausmädchen ging mittags nach Hause und von zwölf bis ein Uhr hatte er das Haus ganz für sich, um es nach Herzenslust auszukundschaften. Er konnte ein- und ausgehen wie ein Geist. Das Schloss der Hintertür war ein Witz, und er knackte Schlösser, seit er fünf Jahre alt war.
    Dann wanderte er von Zimmer zu Zimmer und sog die üppige und wohlriechende Atmosphäre von Carolines Heim in sich auf.
    Im Obdachlosenasyl gab es nur selten heißes Wasser, aber er achtete trotzdem darauf, dass er sich so gut wie nur möglich wusch, wenn er vorhatte, nach Greenbriars zu gehen. Der Gestank des Heims hatte in Carolines Zuhause nichts verloren.
    Greenbriars ging so weit über alles hinaus, was er sich jemals erhoffen konnte, dass er keine Eifersucht verspürte, keinen Neid, während er in der Bibliothek die Rücken von Tausenden von Büchern berührte, begehbare Schränke voller neuer Kleidungsstücke betrat, den riesigen Kühlschrank öffnete und das frische Obst und Gemüse bestaunte. Carolines Familie war auf eine Weise reich, die zu begreifen er nicht imstande war; so als ob sie zu einer anderen Spezies auf einem anderen Planeten gehörten.
    Für ihn war es einfach Carolines Welt. Und für eine Stunde am Tag darin zu leben war, als ob er den Himmel berührte.
    In diesem Unwetter heute konnte ihn niemand kommen sehen. Also marschierte er auf direktem Weg die Auffahrt hinauf, spürte den Kies durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe. Das Schneetreiben wurde immer schlimmer, die vom Wind durch die Luft gepeitschten Eisstückchen trafen schmerzhaft auf seine Haut. Ben wusste, wie man sich lautlos bewegte, verstohlen, wenn es sein musste. Aber das war jetzt überflüssig. Es war niemand da, der ihn hätte sehen oder hören können, als er sich seinen Weg durch den knirschenden Schnee zum Fenster bahnte.
    Die Musik war jetzt lauter, ihre Quelle ein gelbes Leuchten. Erst als er das Ende der Auffahrt erreicht hatte, wurde Ben klar, dass das gelbe Leuchten aus dem riesigen, zwölf Scheiben umfassenden Fenster des Wohnzimmers strahlte und dass die Musik von jemandem kam, der Klavier
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