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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten
Autoren: Lisa Unger
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schulterlanges, glattes weizenblondes Haar, die knabenhafte Figur. Aber das war okay, wirklich.
    Ihre Mutter kam herein und bückte sich nach dem Pullover, den Chelsea achtlos auf den Boden geschmissen hatte.
    »Wo hast du den her?«, fragte sie. Sie hielt den Fetzen in die Höhe, der auf einmal aussah wie ein Puppenkleid. Chelsea schämte sich ein wenig. Unter dem kritischen Blick ihrer Mutter schien der Pulli noch weiter zu schrumpfen.
    »Von Lulu.«
    »Hmm.« Ihre Mutter faltete den Pullover, legte ihn aufs Bett und setzte sich daneben. »Weißt du … wahre Schönheit hat nichts damit zu tun, seinen Körper zur Schau zu stellen.«
    »Ich weiß.« Natürlich. Wie sollte sie das nicht wissen? Sie hatten schon hundertmal darüber geredet. Wahre Schönheit kommt von innen. Sie hat mit Intelligenz zu tun, mit Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Oder: Wahre Schönheit kann man nicht kaufen. Sie kommt nicht aus der Cremedose. Oder: Sie ist nicht an eine bestimmte Kleidergröße gebunden. Ja, Chelsea hatte es verstanden. Schade nur, dass der Rest der Welt die Sache anders beurteilte.
    »Am schönsten bist du, wenn du ganz natürlich bist«, sagte Chelseas Mutter. »Lulu glaubt wohl, sie müsste sich knapp bekleiden, um Aufmerksamkeit zu bekommen.«
    Chelsea warf ihrer Mutter einen skeptischen Blick zu.
    »Du willst doch nicht etwa behaupten, Lulu sei nicht von Natur aus atemberaubend?«
    Ihre Mutter lächelte ihr geduldiges Lächeln. Wie immer machte es Chelsea wütend.
    »Es gibt viele Arten von Schönheit«, sagte Kate.
    »Alle Jungen dieser Welt wollen mit ihr gehen«, sagte Chelsea. Klang sie eifersüchtig? Sie war es nicht. Oder etwa doch?
    Kate zog die Augenbrauen hoch.
    »Was soll das denn heißen, ›mit ihr gehen‹?«
    »Du weißt schon«, sagte Chelsea und wurde rot. »Vergiss es.«
    Sie betrachtete den Pulli auf dem Bett. Die Farbe war grell und billig. Nach ein paar Wäschen bildeten sich Knötchen, und die Farbe verblasste. Das Teil überstand keine Saison.
    »Wie dem auch sei«, sagte ihre Mom, »ich mag dein Outfit. Es ist …«
    Chelsea hob die Hand.
    »Jetzt sag bloß nicht: niedlich.«
    »Ich wollte sagen: hübsch, schick, stilvoll. Die Farbe steht dir.«
    Ihre Mutter stand auf und strich ihr übers Haar. Dann küsste sie Chelsea auf die Stirn und ging hinaus. Chelsea stopfte den Pullover in ihre Tasche. Vielleicht zog sie ihn später an, im Einkaufszentrum. Oder sie gab ihn Lulu zurück.
    »Viertelstunde noch!«, rief ihre Mutter von der Treppe. »Ich habe deinem Bruder versprochen, ihm heute beim Training zuzuschauen.«
    Meinem Halbbruder , wollte Chelsea sagen, aber sie schwieg. Das Wort war tabu. Es machte alle wütend und traurig, Chelsea eingeschlossen. Außerdem meinte sie es gar nicht so. Brendan war unbestritten ihr Bruder. Ganz besonders, wenn er sie nervte.
    »Okay«, rief sie.
    Sie setzte sich vor den Computer und berührte die Maus. Auf dem Bildschirm erschien ihre Facebookseite. Sie las die letzten Einträge. Stephanie war unglücklich und paukte in der Sommerpause für die Matheklausur (wie man pauken und gleichzeitig Posts verfassen konnte, war Chelsea schleierhaft). Langweilig, schrieb Stephanie . Wer braucht im echten Leben Differenzialrechnungen ? Chelsea schrieb zurück: Durchhalten, Süße!
    Ihr Freund Brian freute sich wie bekloppt aufs Fußballtraining. Chelsea wusste es besser. Brian saß die meiste Zeit auf der Bank und wurde immer als Letzter eingewechselt. Sie schrieb: Hau sie weg! Josie war bei der Maniküre. Ich weiß es, diese Chinesinnen lästern über mich! Josie war überzeugt, dass immer alle über sie lästerten. Vielleicht, weil sie selbst so gern lästerte? Chelsea kommentierte den Eintrag nicht.
    Chelsea hatte hundertneun Facebookfreunde, und jeder war ständig mit erwähnenswerten Aktivitäten beschäftigt. Manchmal erschreckte die Flut der Einträge sie. Dauernd sollte sie nachlesen, was die anderen dachten, taten, ob sie sich Sorgen machten, sich freuten, traurig waren oder verliebt.
    Der Strom der Informationen riss nie ab. Sie las von Freunden und von Bekannten, von Mitschülern, die angefragt und die sie akzeptiert hatte. Trotzdem hätte sie sie nie im Leben als echte Freunde bezeichnet. Sie bekam Nachrichten von ihren Cousinen in Washington, sogar von ihrer Stiefoma. Manchmal fühlte Chelsea sich gezwungen, irgendwelche Statusmeldungen abzugeben, nur um sichtbar zu sein, um teilzuhaben. Und wann immer sie etwas postete, fürchtete sie, es könnte nicht
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