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Gedenke deiner Taten

Gedenke deiner Taten

Titel: Gedenke deiner Taten
Autoren: Lisa Unger
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knirschenden Kies. Chelsea begriff kaum, was vor sich ging, was sie eben erlebt hatte. Das Leben entpuppte sich als Illusion. Es war, als habe sich hinter der bekannten Welt ein neues Universum aufgetan. Die Leute trugen Masken und verkauften sich als normale Bürger, aber dahinter führten sie ein zweites Leben voll verborgener Schmerzen, verdrängter Peinlichkeiten und unbequemer Wahrheiten. War es denn so schwierig, einfach nur man selbst zu sein?
    Chelsea blieb reglos im Heck sitzen, obwohl ihre Mutter den Motor ausgeschaltet und das Boot festgemacht hatte. Sie fürchtete, wenn sie festen Boden betrat, in das Chaos mit hineingezogen zu werden.
    »Alles in Ordnung?« Ihre Mutter setzte sich neben sie und umarmte sie fest.
    »Ich weiß nicht …«
    »Kein Wunder«, antwortete Kate. Ihre Mutter war der einzige Mensch auf Erden, der ehrlich zu ihr war. Sie hatte keine Geheimnisse, gab sich, wie sie war. Das verstand Chelsea nun und auch, wie verletzlich sie dadurch wurde.
    »Und du?«, fragte sie zurück. »Geht es dir gut?«
    »Ja«, sagte Kate, »ehrlich.«
    »Wie kann das sein?«
    »Alle Menschen, die ich liebe, sind in Sicherheit«, erklärte Kate. »Und der Rest ist mir egal.«
    »Auch das Haus und die Insel?«
    »Die Insel hat es schon immer gegeben, und sie wird noch da sein, wenn ich nicht mehr lebe. Das Haus … na ja. Wir können ein neues bauen.«
    Kate erklärte ihrer Tochter, dass Platz für Neues nur entsteht, wenn das Alte verschwindet. Chelsea verstand es, tröstlich fand sie es aber nicht. Einmal hatte ihre Mutter ihr eine glitzernde Schneekugel mit der New Yorker Skyline mitgebracht. Sie hatte die Kugel geliebt. Und eines Tages hatte ihre Mutter sie beim Staubwischen vom Regal gefegt. Sie war in tausend Stücke zerbrochen. Die Scherben waren überall, die kleinen Flocken klebten an der Wand, auf der Bettwäsche, auf dem Teppichboden. Obwohl Chelsea schon größer war, weinte sie.
    »Es tut mir leid, Schätzchen«, hatte ihre Mutter gesagt, »ich kaufe dir eine neue.«
    »Ich will keine neue«, sagte Chelsea schluchzend. »Ich will nur diese eine.«
    Doch sie zu ersetzen war unmöglich. Eine neue Schneekugel würde sie nur an das erinnern, was sie verloren hatte.
    Als Chelsea lange genug um die Schneekugel getrauert hatte, sagte ihre Mutter: »Es war nur ein Gegenstand, Chelsea. Gegenstände bedeuten nichts, nur Menschen.«
    Es war die Wahrheit, aber es kam ihr nicht richtig vor. Bis heute wurde Chelsea traurig, wenn sie an die Schneekugel dachte. Die Endgültigkeit des Verlustes verletzte und irritierte sie. Es ist albern, sich an Objekte zu klammern, Liebes. Irgendwann müssen wir loslassen. Warum eigentlich? Wieder eine Frage, auf die niemand eine Antwort wusste.
    Es roch nach Rauch, nach dem brennenden Haus, das auch verloren war und nicht ersetzt werden konnte. Von nun an teilte man die Zeit auf der Insel in »vor dem Brand« und »nach dem Brand« ein. Verluste waren zeitlos, für die Ewigkeit gemacht. Was man hatte, konnte man verlieren. Aber was man verlor, bekam man nicht zurück.
    Chelsea konnte ihre Gedanken nicht in Worte fassen. Stumm und ratlos folgte sie ihrer Mutter auf den Anleger, um nach Lulu zu suchen. Chelsea entdeckte die Freundin, die klein und blass und einsam auf der Ladefläche eines Krankenwagens hockte. Sie rannte los und flog in Lulus Arme.
    »Es tut mir so leid«, sagte Lulu immer wieder.
    Chelsea wusste nicht, was genau der Freundin leidtat. Das auf der Insel Erlebte, das Feuer, die Lüge, der Streit? Es war ihr egal. Es zählte nicht mehr. Ihre Mutter hatte Recht.
    »Chelsea?«, sagte Lulu.
    »Ja«, sagte Chelsea.
    »Das war der schrecklichste Urlaub aller Zeiten.«
    Am liebsten hätte Chelsea laut gelacht. Stattdessen fing sie zu weinen an. Lulu fiel in ihr Schluchzen ein. Lange noch würden Chelsea die Bilder des Mannes in der Hütte verfolgen, es war wie in einem Horrorfilm. Lulus Schrei, als sie vergeblich mit der Schaufel auf ihn einschlug. Der Schmerz, der ihr durch beide Arme schoss, als sie ihm den Feuerhaken ins Gesicht rammte, das grauenhafte Knacken von Knochen.
    »Dem haben wir’s gezeigt«, sagte Lulu unter Tränen. »Ich wusste gar nicht, dass du solche Killerinstinkte hast.«
    »Liegt in der Familie«, sagte Chelsea. »Mütterlicherseits.«
    Und dann mussten sie doch lachen, auch wenn es immer noch wie Weinen klang, abgehackt und hemmungslos. Aber es fühlte sich gut an.
    Als Kate die Mädchen zusammen sah, wurde sie zum ersten Mal sehr traurig. Ein
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