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Gebrauchsanweisung fuer Amerika

Gebrauchsanweisung fuer Amerika

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Amerika
Autoren: Watzlawick Paul
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die übrigens technisch nicht als Strafe, sondern als verfallene Kaution gilt, kann jederzeit vor einem Geschworenengericht angefochten werden. Daß der eventuelle Sieg der Gerechtigkeit dem Kläger statt den sechs Dollar des Strafmandats zwölfhundert Dollar an Anwaltsspesen kosten mag, scheint ihm die Sache wert. »Die Amerikaner ganz allgemein, und die Kalifornier im besonderen, sind die streitsüchtigsten Leute auf Erden«, stellte der Rechtsberater des Gouverneurs von Kalifornien schon 1977 fest – und der muß es ja wissen. Es gibt in Kalifornien 54000 Rechtsanwälte, zu denen jährlich 5000 neue stoßen. Im gesamten Staatsgebiet stieg die Zahl der Rechtsanwälte von 250000 im Jahre 1960 auf über 622000 im Jahre 1984, und Mitte der neunziger Jahre soll die Millionengrenze erreicht worden sein. Kein Wunder, wenn bei dieser Konkurrenz die Neigung besteht, aber auch jede Lappalie vor Gericht zu zerren und möglichst breitzutreten. So werden zum Beispiel im verhältnismäßig kleinen San Francisco täglich einhundert neue Zivilklagen eingereicht. Kein Wunder auch, wenn in dieser Flut von Bagatellen der wirklich sensationelle Prozeß, vor allem seine ausführliche Bericht- und Bilderstattung in Zeitung und Fernsehen, dem schon erwähnten Bedürfnis nach öffentlichem Ruhm entgegenkommt. Der Starverteidiger, der den Belastungszeugen besonders geschickt verwirrt und einschüchtert und womöglich schließlich beweist, daß der Täter das wahre Opfer ist, gesellt sich in der modernen Mythologie zum Stardetektiv, dem Starchirurgen und dem Starcowboy. Verbrechen muß Klasse haben, der kleine, erfolglose Gauner ist eine jämmerliche Figur. Sollten Sie sich, lieber Leser, mit der wirklich nicht empfehlenswerten Absicht tragen, in Amerika ein Verbrechen zu verüben, dann muß ich Ihnen schweren Herzens zu einem wahrhaft sensationellen Delikt raten. Denn erstens sind Sie dann »jemand«, Sie stehen im Scheinwerferlicht der Massenmedien; und zweitens wird Ihr Anwalt keine große Mühe haben, die Einstellung des Verfahrens gegen Sie deswegen zu beantragen, weil es nun unmöglich ist, eine unbefangene Jury zusammenzustellen. Die Geschworenen müssen nämlich Leute sein, die von Ihrer Tat noch überhaupt nicht gehört haben sollten. Ein nicht weniger ausgezeichnetes Argument zu Ihrer Verteidigung ist es auch, zu behaupten, Sie hätten nach Verübung der Tat solche Angst vor ihren Folgen gehabt, daß Sie aus dieser Angst heraus eine Reihe weiterer Straftaten verübten. Das erste Verbrechen wird somit zur Entschuldigung für die nächsten – eine rabulistische Logik, ganz ähnlich der, die dem schon erwähnten Werbeslogan nationally advertised zugrunde liegt: Die Tatsache, daß für etwas landesweiter Klamauk gemacht wird, wird selbst als zusätzlicher Beweis für die Güte des Angepriesenen hingestellt. – Sehr beliebt ist im Strafrechtswesen auch das sogenannte plea bargaining (das Aushandeln der Schuld), das auf einen ganz unverblümten Kuhhandel zwischen Verteidiger und Staatsanwalt hinausläuft, auf Grund dessen sich der Angeklagte zu einem geringeren Anklagepunkt (zum Beispiel unerlaubtem Waffenbesitz) für schuldig erklärt und der Staatsanwalt als »Gegenleistung« die schwerwiegendere Anklage (zum Beispiel Nötigung), deren Nachweis ihm eine Menge zusätzliche Arbeit verursacht hätte, fallenläßt.
    Doch all dies ist relativ harmlos. Der Brennpunkt der folgenschwersten und bittersten Mißverständnisse zwischen der Alten und der Neuen Welt liegt anderswo. Es fällt dem Europäer nämlich schwer, sich das Ausmaß des geradezu kindlichen amerikanischen Glaubens an Ideale und vor allem an die Verwirklichbarkeit von Idealen vorzustellen. In seiner Abgebrühtheit kann er in dieser Haltung nicht Unschuld, sondern nur besondere Getriebenheit sehen. Ein geradezu tragikomisches Beispiel dafür ist die Perplexität der europäischen Öffentlichkeit über die Politik der Regierungen Carter oder Reagan. Die Widersprüche, abrupten Frontwechsel und anderen salti mortali vor allem in der Außenpolitik, die zumindest im Falle Carter die unvermeidlichen Pannen eines reinen Toren waren, der sich bemühte, es allen Menschen recht zu tun – oder es wenigstens versprach – , und damit in die unseligen Fußstapfen seines Vorgängers Woodrow Wilson zu treten drohte, scheinen (uns verblüfften Europäern) zunächst jeweils die Oberflächenmanifestationen eines raffiniert ausgeklügelten, meisterhaft neuen Konzepts der betreffenden
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