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Gebrauchsanweisung fuer Amerika

Gebrauchsanweisung fuer Amerika

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Amerika
Autoren: Watzlawick Paul
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sozusagen applaudieren. Das amerikanische Kind befindet sich daher in einer gewissermaßen exhibitionistischen Rolle: Es produziert sich, imponiert und lernt das gesellschaftlich akzeptable Verhalten am Beifall der Eltern. Im Gegensatz dazu sieht sich vor allem der englische Vater als Vorbild, das heißt, er ist der Agierende und vermittelt so dem (zuschauenden) Kinde die Richtlinien für gesellschaftlich richtiges Verhalten. Eine der bekanntesten Regeln englischer Erziehung, »Children should be seen but not heard« , hat in Amerika praktisch keine Bedeutung.
    Diese etwas trockenen Überlegungen sind für Sie dann von sehr praktischer Bedeutung, wenn Sie Amerikanern gegenüber einen Standpunkt zu vertreten haben – sei es als Repräsentant Ihrer Firma, als diplomatischer Vertreter Ihres Landes, Mitglied einer Kommission oder vor allem als Vortragender. Als Europäer werden Sie sich fast sicher und ganz unbewußt in der führenden, aktiven, belehrenden Rolle sehen und Ihre Zuhörer als die (passiven) Empfänger Ihrer Information. Sie werden ferner dazu neigen, die Form dieser Informationsvermittlung nach eigenem besten Gutdünken zu gestalten. Was Ihnen dabei aber wahrscheinlich völlig entgeht, ist die Tatsache, daß die Amerikaner in Ihrem Benehmen keineswegs Ihre vermeintlich so klare, gute Absicht sehen, Ihren Standpunkt verständlich und objektiv darzulegen. Für Ihre Zuhörer ist Ihr Verhalten viel eher ein nicht sehr schmeichelhafter Kommentar über sie selbst und ein Ausdruck »typisch europäischer« Schulmeisterei und Arroganz. Denn in (ebenso unbewußter) amerikanischer Sicht ist es die Rolle eines Vortragenden (wie des Kindes), sich von seiner Zuhörerschaft bestätigen und ratifizieren zu lassen.
    Umgekehrt sieht der Europäer in eben dieser amerikanischen Haltung eine Art Aufschneiderei, ein Prahlen oder auch die naive Forderung nach uneingeschränkter Anerkennung und Bewunderung. Was wir nämlich schwerlich begreifen, ist, daß der Amerikaner diese Haltung nur jenen Personen gegenüber einnimmt, die ihm sympathisch sind, die er respektiert und an deren Anerkennung ihm daher gelegen ist.
    Kein Wunder übrigens, daß sich die therapeutischen encounter groups (Selbsterfahrungsgruppen) in den USA solcher Beliebtheit erfreuen. Man setzt sich zusammen, man legt los, man ist brutal »ehrlich«, und das Ganze wird für therapeutisch gehalten – und ist es vielleicht auch, da man sich mit etwas Glück und öffentlicher Selbstkritik schließlich von der Gruppe seiner Sünden oder Symptome freigesprochen fühlt. Aber eben, neu scheint diese Prozedur nicht zu sein, nur wiederentdeckt. Denn schon 1938 beschrieb der französische Journalist Raoul de Roussy de Sales in seinem Essay Love in America diesen Kult der »verheerenden Offenheit«:
    »Ehepaare scheinen viele unwiederbringliche Tages- und Nachtstunden mit der Besprechung dessen zu verbringen, was an ihrer Beziehung nicht stimmt. Sie gehen von der Überzeugung aus, daß man – laut den Lehren der meisten modernen Psychologen und Pädagogen – der Wahrheit furchtlos die Stirn bieten müsse, [...] Das ist eine schöne Theorie, aber sie wird nur selten ohne verhängnisvolle Folgen in die Praxis umgesetzt. Es bestehen dafür mehrere Gründe. Erstens ist die Wahrheit ein Sprengstoff, der, vor allem im Eheleben, mit Vorsicht gehandhabt werden sollte. Es ist nicht notwendig zu lügen, aber es hat wenig Zweck, mit Handgranaten zu jonglieren, nur um zu beweisen, wie furchtlos man ist. Zweitens setzt die Theorie der absoluten Aufrichtigkeit voraus, daß Liebe, die dauerndem Beschuß nicht standhält, ohnehin nicht der Pflege wert sei. Es gibt eben Leute, die sich ihr Liebesleben als dauernde Schlacht von Verdun vorstellen. Und wenn einmal das Verteidigungssystem rettungslos beschädigt ist, wird die Anschuldigung hoffnungsloser Unverträglichkeit von einem oder auch von beiden Partnern erhoben. Als nächstes läßt man sich dann scheiden und sucht sich jemand anders, mit dem man wieder eine Saison lang rücksichtslos aufrichtig ist.«
    Dieser Kult der rücksichtslosen Offenheit, im Verein mit dem schon erwähnten Bedürfnis nach Ratifizierung der eigenen Entschlüsse durch das Kollektiv, durch die Gesellschaft, dürfte zumindest einer der Gründe für die häufige Inanspruchnahme der Gerichte nicht nur für Scheidungen, sondern für viele Konflikte sein, die in Europa kaum vor den Richter kämen. Die Geldstrafe von sechs Dollar für falsches Parken, zum Beispiel,
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