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Gebrauchsanweisung fuer Amerika

Gebrauchsanweisung fuer Amerika

Titel: Gebrauchsanweisung fuer Amerika
Autoren: Watzlawick Paul
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flatternder Fahnen volksverbundener Fahrt ins finstere Chaos in den Knochen steckt, fröstelt es etwas, wenn er den amerikanischen Fahnenklamauk entdeckt. Statt dem Konterfei des schnurr-, spitz- oder vollbärtigen Volksbeglückers an der Wand, findet sich in jedem besseren Amtsraum, Klassenzimmer sowie Kirche die Fahne in der Ecke. Ihr leistete man, ob Schulkind oder Generaldirektor, bis vor einigen Jahren täglich erneut den Treueschwur. Zu feierlichen Anlässen wird sie spazierengeführt, wobei eine für den Ausländer befremdlich-belustigende Erotisierung zutage tritt: Der Fahne folgt oft eine Ehrengarde leichtgeschürzter, hochbusiger Mädchen, majorettes genannt, in strampelndem Gleichschritt. Im Herbst 1977 kam es in Paris zu einer kleineren Bestürzung, als die majorettes der Lake Howell High School aus der Stadt Orlando in Florida mit Fahne und Musikkapelle auf den Champs-Élysées marschieren wollten. Die Franzosen, die, wie sich vermutlich zum Erstaunen der amerikanischen Organisatoren herausstellte, doch nicht toujours l’amour im Sinne haben, kriegten den Zusammenhang zwischen Fahnen, dem Grab des Unbekannten Soldaten und langen, seidigen, gestiefelten Mädchenbeinen nicht mit, und die für amerikanische Begriffe durchaus koschere Heldenehrung konnte in dieser Form nicht stattfinden.
    Doch ich schweife schon wieder ab. Die Folgen der Hochachtung für das Kollektiv werden Ihnen besonders dann auffallen, wenn Sie Vergleiche darüber anstellen, wie der Amerikaner im Gegensatz zum Europäer mit einem unerwünschten Zustand fertig zu werden versucht. In seinem, dem Amerikaner zynisch und nihilistisch erscheinenden Mißtrauen an der Verbesserungsfähigkeit der Welt neigt der Europäer dazu, Privatlösungen anzustreben, Hindernisse irgendwie zu umgehen, Hintertürchen zu benutzen und ihr Bestehen nur ja nicht an die große Glocke zu hängen. Dieses Vorgehen ist für den Amerikaner auch dann unannehmbar, wenn es, ohne jemandem zu schaden, zu vollem Erfolg führen könnte. Und daher seine Besessenheit mit der Bildung von Ausschüssen aller Art selbst dann, wenn eine rasche, einfache, individuelle Entscheidung durchaus möglich wäre. Von dieser Komiteesucht des Amerikaners werden Sie, lieber Leser, bald ein Lied zu singen wissen, wenn Sie als Geschäftsmann, Experte, Wissenschaftler oder dergleichen zur Erreichung eines bestimmten Zweckes in die USA kamen. Man sitzt, man debattiert, die Berge kreisen, und es wird nicht einmal eine Maus geboren, sondern der Ausschuß wird auf einen neuen Termin vertagt.
    Denn für den Amerikaner muß jede Lösung öffentlich und allgemeinverbindlich sein. Er agiert, propagiert, legt seine Seele bloß und gibt sich nicht zufrieden, bis ihm das Kollektiv seine volle Zustimmung und Anerkennung erteilt. [16] Zaunlos und mit riesigen, der Straße zugewandten Fenstern wie seine Häuser ist auch seine Psyche. Jeder soll sehen, was in ihm vorgeht, soll es bewundern und billigen und soll vor allem das beruhigende Gefühl haben, daß ihm nichts vorenthalten wird. Daher die weit offenen Bürotüren, daher die Angst vor der Stille, von der man ja nicht weiß, was sie verbirgt. Die oft erwähnte, gesprächige Leutseligkeit des Amerikaners dürfte eher auf die für ihn ominöse Bedeutung des Schweigens als auf sein Interesse am Mitmenschen zurückzuführen sein. Im Flugzeug, an der Theke einer Bar oder eines Schnellrestaurants zu sitzen, ohne mit dem wildfremden Nachbarn ein Gespräch zu pflegen, verursacht ihm offensichtlich Unbehagen. Das schweigende Anblicken eines Fremden, das den Bruchteil einer Sekunde länger dauert, als es die unbewußten gesellschaftlichen Regeln gestatten, führt in jenem fast unweigerlich zu einem (vom Europäer leicht mißverstandenen) Nicken oder Lächeln, und nicht etwa zu Mißtrauen oder besonderer Zurückhaltung. Versuchen Sie das nur einmal selbst. Sie werden, lieber Leser, sogar feststellen können, daß Schweigen selbst in der Herrentoilette verpönt ist. An der Wand stehend und sein Geschäft verrichtend wird der Amerikaner immer noch dazu neigen, ein paar freundliche, belanglose Worte an Sie zu richten.
    Anthropologen, vor allem Bateson und Mead, führen diese Haltung auf die sehr verschiedene Rolle des Kindes in der typisch amerikanischen im Gegensatz, zum Beispiel, zur typisch englischen Familie zurück. Sie weisen nach, daß amerikanische Eltern ihren Kindern gegenüber eine Zuschauerrolle einnehmen und, eben als Zuschauer, erwünschtem Benehmen
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