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Garten des Lebens

Garten des Lebens

Titel: Garten des Lebens
Autoren: D Macomber
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sagte, George wäre tot gewesen, noch bevor er den Boden berührt hatte. Seine Worte klangen, als sollte sie deswegen erleichtert sein. Aber nichts hatte das Entsetzliche dieses furchtbaren Morgens mildern können.
    Vivian blinzelte, und obgleich es einer dieser wunderbaren frühlingswarmen Maitage war, wie es sie nur im Osten des Staates Washington geben konnte, lief ihr ein kalter Schauer über den Körper. Sie versuchte die Angst, die in ihr aufstieg, zu unterdrücken. Wie sollte sie jetzt nach Hause finden?
    Susannah würde wissen, was zu tun war. Ja, ihre Tochter würde ihr helfen. Doch dann fiel Vivian ein, dass Susannah nicht zu Hause war. Susannah wohnte gar nicht mehr in Colville, sie hatte jetzt ein eigenes Zuhause. In Seattle, nicht wahr? Ja, in Seattle. Sie war verheiratet und hatte zwei wundervolle Kinder. Susannah und Joes Kinder. Großer Gott, warum nur fielen ihr die Namen nicht ein? Ihre Enkelkinder waren doch ihre größte Freude und ihr ganzer Stolz. Sie sah die Gesichter der beiden so deutlich vor sich, als würde sie eine Fotografie anschauen, aber sie konnte sich nicht an ihre Namen erinnern.
    Chrissie. Vivian seufzte vor Erleichterung. Der Name ihrer Enkeltochter war Chrissie. Sie war zuerst auf die Welt gekommen, und drei Jahre später war Brian geboren. Oder waren es vier Jahre gewesen? Vivian entschied, dass das jetzt nicht so wichtig war. Wenigstens erinnerte sie sich an die Namen.
    Wenn sie sich nur besser konzentrieren könnte, dann würde ihr bestimmt einfallen, wo sie sich gerade befand und welche Richtung sie nehmen musste, um nach Hause zu kommen. Es wurde bereits dunkel, und sie wollte nicht ziellos durch die Straßen irren. Aber es gelang ihr einfach nicht, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.
    Wenn andere Fußgänger in der Nähe gewesen wären, hätte sie sie fragen können, wie sie von hier aus zur Woods Road kam.
    Nein … in der Woods Road hatte sie als Kind gelebt. Seit sie in die Schule gekommen war – und das war vor dem Krieg gewesen –, wohnte sie woanders. Um Himmels willen, sie sollte doch wohl in der Lage sein, sich an ihre eigene Adresse zu erinnern! Was war nur los mit ihr?
    Das Haus, an das sie sich zu erinnern versuchte, hatten George und sie vor beinahe fünfundvierzig Jahren gekauft. Damals waren die Kinder noch zu Hause. Vivian empfand Furcht … und Scham. Eine achtzigjährige Frau sollte doch wissen, wo sie wohnte. George wäre enttäuscht und außer sich, wenn er das erfahren würde … Gottlob würde er es nie erfahren. Aber das machte die ganze Sache auch nicht besser. Sie
brauchte
ihn, und er war nicht hier, um ihr zu helfen – dieser Gedanke erfüllte Vivian mit so großem Entsetzen, dass sie unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte.
    Sie lief los, ohne genau zu wissen, wohin. Wenn sie einfach weiterlief und sich nur fest konzentrierte, würde die Erinnerung vielleicht zurückkommen.
    Schon bald fühlten sich ihre Beine schwer an, und sie war erleichtert, als sie an der Straßenecke eine Bank stehen sah. Vivian konnte sich nicht erklären, warum die Stadt gerade an dieser Stelle eine Bank aufgestellt hatte – es war nicht einmal eine Bushaltestelle in der Nähe. Was für eine Verschwendung von Steuergeldern. Wenn George das erfahren würde, wäre er sicher wütend. Er war Beamter gewesen, jahrelang. Richter am Kammergericht. Und er war gut, ein Mann mit Prinzipien und Charakter. Wie stolz Vivian auf ihn war.
    Trotzdem war sie im Augenblick so erleichtert, sich setzen zu können, dass sie sich nicht beklagte. George hatte immer ganz frei seine Meinung zu den Bürgerpflichten geäußert und zu der “Vergeudung von Ressourcen durch das Rathaus” wie er es nannte. Natürlich hatte sich Vivian die Ansichten ihres Mannes stets geduldig angehört, aber sie war nicht immer seiner Meinung gewesen. Sie hatte ihre eigenen Vorstellungen über politische Fragen und dergleichen, aber die diskutierte sie nicht mit George. Das war etwas, was sie schon früh in ihrer Ehe gelernt hatte. George wollte immer alle von der Richtigkeit seiner Einstellung überzeugen, und er ließ nicht locker, bis er jeden so weit hatte. Wenn Vivians Überzeugung sich also von Georges unterschied, hatte sie es für sich behalten.
    Sie saß auf der Bank und blickte sich um in der Hoffnung, etwas Charakteristisches zu entdecken, das ihr helfen würde, sich zu erinnern. Oje, war das eine belebte Straße! So viele Autos rasten vorbei, und die Lichter blendeten Vivian, bis ihr
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