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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Autoren: Gitta Becker
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gefragt habe. Nie wurden auf meine Fragen klare Antworten gegeben.
    Mütter sind keine zerbrechlichen Wesen, sie halten eine Menge aus. Wir vertragen einiges an Wahrheiten, wollen aber auch ernst genommen werden, vor allem dann, wenn die Krankheit unserer Kinder tief greifende Folgen für die ganze Familie hat.
    Damals, als Andreas erkrankte, mussten Ärzte und Schwestern lernen, mit Müttern umzugehen, die 24 Stunden auf den Stationen waren, die mehr sahen als diejenigen, die nur zur Besuchszeit kamen. Aber auch die Mütter mussten lernen, 24 Stunden auf einer Station zu verbringen. Sie mussten lernen, Schwestern zu akzeptieren, die an ihren Kindern arbeiteten, die sie nach Operationen wuschen, sie mindestens einmal am Tag ohne Kleidung sehen sollten, um rechtzeitig Ausschläge oder dergleichen wahrzunehmen. Manche Mütter hatten Probleme damit, ihre Kinder den Schwestern zu überlassen, einfach auch mal nur zuzuschauen, wenn diese ihre Kinder badeten.
    Heute ist das Normalität und die Gewinner sind auf jeden Fall die kleinen Patienten.

DAS ABSURDE ZUR NORMALITÄT MACHEN
    Wir als Familie mussten lernen, dass Andreas einen festen Rahmen brauchte, in dem er sich bewegte. Sein Tagesablauf war immer gleich, so ziemlich jedenfalls. Ausnahmen tolerierte er manchmal, meistens aber nicht und die Antwort kam prompt in Form eines Anfalls. Er reagierte fast immer darauf, wenn ich mich übermäßig freute, oder auch übermäßig traurig war. Wir erzogen ihn, fast immer jedenfalls, konsequent. Ein „Nein“ war und blieb ein „Nein“, ein „Ja“ war und blieb ein „Ja“. Er hatte uns mit seinem Wesen, seiner fröhlichen Art, seinem Lachen im Griff.
    Trotz all dieser Erfahrungen, die Andreas machen musste, blieb er ein fröhliches Kind und später auch ein fröhlicher, aufgeschlossener Mann, der natürlich auch seine Launen hatte. Die einzige Ausnahme war jenes Jahr nach seinem ersten Krankenhausaufenthalt. Immer wenn die Nacht kam, wenn er müde war und schlafen sollte, wich seine Fröhlichkeit. Da sah ich die Angst in seinen fragenden Augen, ob ich noch da sein würde, wenn er erwachte. Ein Jahr brauchte es, bis alles wieder so normal war, dass ich ihn ins Bett bringen konnte und das Licht ausmachen durfte. Ein Jahr, eine unendlich lange Zeit, bis er dieses Urvertrauen wieder hatte, seine Mama zu sehen, wenn er die Augen am Morgen aufschlagen oder wenn er in der Nacht aufwachen würde. Die Tür aber durfte ich nie wieder schließen.
    Andreas war ein aufgewecktes Kind, fröhlich und immer zu Scherzen aufgelegt. Manchmal brachte er mich zur Weißglut, weil er nicht so leicht von etwas, das er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, abzubringen war.
    In den ersten Jahren entwickelte er sich noch gut. Niemand bemerkte, dass Andreas anders war, man sah es ihm auch nicht an. Er war stets braun gebrannt, bekam nach und nach blonde Locken, musste eine Brille tragen, weil er herzig schielte. Wenn ein kleines Kind eine Brille tragen muss, dann ist das für seine Mutter schon eine Herausforderung, wenn dann aber bei dieser Brille ein Glas abgeklebt ist, dann ist das eine noch sehr viel größere Herausforderung. Ständig musste man die Brille suchen, die Andreas als störend empfand und die er dann, egal wo er saß oder stand, einfach abzog und fallen ließ. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er sie dann toleriert.
    Manche Entwicklungsverzögerungen waren bei Andreas durch Medikamente verursacht, andere durch das Fehlen von Medikamenten. Als es an der Zeit war, laufen zu lernen, merkten alle, dass er wollte, aber nicht konnte. Mit 18 Monaten konnte er immer noch nicht laufen, schaffte gerade so ein paar Schritte, bevor er nach hinten kippte und auf seinem windelbepackten Hinterteil landete. Immer und immer wieder stand er auf und versuchte es. An der Hand ging es mühelos, nur nicht alleine. Ich sah seine Versuche und war sicher, dass er es eines Tages schaffen würde.
    In dieser Zeit etwa zeigte sich, dass Andreas mit dem Medikament, das er seit dem ersten Anfall bekam, nicht auskommen würde. Also musste seine Medikation völlig umgestellt werden, was geschah, als er wegen eines Infektes ohnehin stationär in der Klinik aufgenommen werden musste. Ungefähr drei Wochen nachdem er die letzte Dosis dieses ersten Medikaments bekommen hatte – wir waren längst aus dem Krankenhaus entlassen worden – stand Andreas auf und lief. Monatelang hatte er es unendliche Male versucht, war dabei immer auf seinem Hintern gelandet, und
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