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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Autoren: Gitta Becker
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geschehen war, ihm die Chance auf ein eigenes Leben zu geben, gehört zu den besten Entscheidungen, die ich für ihn je getroffen habe.

HEUTE
    Immer wieder habe ich meine Entscheidung überprüft, hatte Zweifel, ob der Weg für Andreas der richtige war. Immer dann, wenn ich ihn zurück ins HPC gebracht habe, wusste ich, wir haben für ihn die richtige Entscheidung getroffen.
    Ehrlich gesagt hatte ich von solchen Einrichtungen immer schlimme Bilder im Kopf. Ich nahm an, dass mein Andreas irgendwo vergessen in einer Ecke sitzen würde, dass er vielleicht sogar nicht gewaschen werden würde, dass einfach niemand für ihn da wäre.
    Diese Einrichtung hat mich eines Besseren belehrt. Andreas‘ Zimmer konnten wir für ihn gestalten, was er selbst jedoch nicht als unbedingt notwendig erachtete. Er hatte seinen eigenen Fernseher, seinen Kassettenrekorder, seine Bettwäsche, sein Schlafkissen und war damit glücklich.
    Durch eine Sitzgruppe um den Fernseher herum hatte der Gemeinschaftsraum eine angenehme Wohnatmosphäre. Was mich wirklich fasziniert, ist die Tatsache, dass der lange Flur, der vom Eingangsbereich in die Wohngruppe führt, nach Jahreszeiten oder anstehenden Festen dekoriert wird: An Ostern schmücken frische Zweige den Flur, an Weihnachten leiten kleine Lichter den Weg in die Gruppen, an Fasching hängen überall bunte Girlanden.
    Das Sommerfest ist das Highlight des Jahres. Mit unglaublich viel Mühe wird gebastelt, gemalt und geackert, damit das Thema des Festes gleich zu erkennen ist. Egal ob Geburtstag, Fasching, Sylvester oder Weihnachten, gefeiert werden alle Feste. An den Wänden hängen Bildergalerien der letzten Ausflüge, gesammelte Werke aus den letzten Jahren, sorgsam zu einer Collage zusammengestellt. So oft wie möglich versuchen die Betreuer mit ihrer Gruppe Pizza essen zu gehen, oder mal einen Abend im Kino zu verbringen.
    Ich hatte Zweifel, den Schritt wirklich zu tun, da ich damals nicht wusste, wie sich seine Krankheit, mein größter Feind, weiterentwickeln würde. Ich beruhigte mich stets damit, dass ich ihn jederzeit wieder nach Hause holen könnte. Völlig unbegründete Zweifel, wie ich heute weiß.
    Heute kenne ich meinen Gegner. Ich kenne den Namen und doch kann ich nichts dagegen tun. Mein Feind heißt Dravet-Syndrom. Es tritt äußerst selten auf und war bis vor ein paar Jahren noch seltener Gegenstand der Forschung. Ich habe letztes Jahr mit Ulli telefoniert, um ihm zu erzählen, dass ich ein kleines Buch über Andreas‘ Weg schreiben möchte und da nannte er mir diesen Namen.
    Ich recherchierte im Internet und fand die Beschreibung der Krankheit. Dort, schwarz auf weiß, stand jedes einzelne Symptom meines Andreas.

EPILOG
    …und stelle fest, dass die Menschen weinen. Ich kann es nicht ganz verstehen. Es ist so ein wunderschöner Tag. Kerzen flackern im Luftzug, die Blumen duften herrlich und um mich herum soll so viel Schmerz und Trauer sein. Ich fliege weiter und betrachte die Familie, die dort in der ersten Reihe sitzt.

    Kurz nach Beginn der Trauerfeier flog ein Schmetterling herein. Er drehte einige Runden über unseren Köpfen und ließ sich dann auf den weißen Margeriten nieder, die Andreas’ Sarg schmückten. Wir alle waren abgelenkt und auch der Pfarrer schwieg für einige Augenblicke, als der Schmetterling sich erhob, abermals eine Runde flog und sich auf den Fußboden setzte, genau in die Mitte vor uns, als wolle er uns von Andreas sagen: „Alles ist gut, alles ist in Ordnung“.
    Ich hob meinen Blick und las den Spruch, der auf der Schärpe eines Kranzes steht: „Wir, Andreas’ Familie, seine Freunde und Betreuer aus dem HPC, unsere Verwandten und Freunde nehmen Abschied von Andreas.“
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