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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Autoren: Gitta Becker
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zusätzlichen, und war wieder der friedlichste Mensch, ohne jegliches Beruhigungsmittel.

ERSTE HILFE, ZWEITE HILFE, …
    Im Laufe von Andreas’ Krankheit musste ich lernen, mich durchzusetzen und mir, wie jede andere Mutter mit einem kranken Kind auch, Respekt zu verschaffen. Ich musste mich zwingen, über das Leben und den Tod nachzudenken. Über Lebensqualität und Lebensquantität, darüber, was ich in welchen Situationen zu tun hatte, was gleichzeitig die Angst in sich barg, im entscheidenden Moment das Falsche zu tun. Ich machte mir Gedanken darüber, wie ich entscheiden würde, wenn Andreas von lebenserhaltenden Maschinen abhängig sein würde. Abschalten oder nicht? Ich wollte nicht in so jungen Jahren darüber nachdenken müssen. Ich habe für mich festgelegt, dass mein mütterlicher Egoismus, mein Kind niemals hergeben zu wollen, niemals über dem Wohl meines Sohnes oder auch über dem Wohl meiner Töchter stehen darf. Alle Mütter müssen ihre Kinder in ihr eigenes Leben gehen lassen. Warum nicht auch Mütter, die ein krankes und behindertes Kind haben?
    Auch wenn Andreas nun schon eine Weile im HPC – irgendwann wurde aus dem HPZ ein HPC – lebte, stellte ich mir immer wieder diese Fragen. Überprüfte meine Einstellung aufs Neue, um im jeweiligen Moment die richtige Entscheidung treffen zu können. Die Verantwortung für die eigenen Kinder endet niemals.
    Es war im September, Claudias Geburtstagsparty stand an. Wir waren einkaufen, kamen mit Taschen und Körben bepackt nach Hause. Im Fax lag eine Nachricht für mich: „Andreas wurde nach einem Sturz in das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe gebracht.“
    Mein erster Gedanke: „Das darf doch nicht wahr sein! Nicht jetzt, nicht heute!“
    Ich rief zuerst im HPC an und ließ mir erklären, was geschehen war. Andreas hatte einen Anfall gehabt. Den Helm, den er seit einiger Zeit tragen musste, hatte er in diesem Moment natürlich nicht aufgehabt. Er war äußerlich unverletzt, war aber mehr und mehr apathisch geworden. Da sie das bei Andreas nicht gewohnt waren, hatten sie sich entschlossen, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Ich setzte mich ins Auto und ließ zwei irritierte Töchter zu Hause zurück, weil ich ihnen ihre Fragen, wie es Andreas denn ginge, auch nicht beantworten konnte. Ich kam auf der neurologischen Station an und fand meinen Sohn apathisch vor, allerdings freute er sich mit einem gequälten Lächeln, als er mich sah. Er ließ sich im Laufe der Jahre nach schweren Anfällen, bei denen er sich Verletzungen zugezogen hatte, besser behandeln wenn ich da war. Der Neurologe ordnete ein CT an, dessen Ergebnis eine Gehirnblutung war. Da die Möglichkeiten der operativen Behandlung in Havelhöhe nicht gegeben waren, hatte man sich entschlossen, ihn in ein anderes Krankenhaus zu verlegen, in dem man bei weiter ansteigendem Hirndruck eine sofortige Operation durchführen konnte. In der Zwischenzeit war es dunkel geworden und regnete. Der Arzt, der Andreas auf dem Transport begleiten sollte, und der Krankenwagen kamen. Ich empfand die Situation als gespenstisch: dunkle Nacht, regnerisch, der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht und ich hinterher. Irgendwann kam er besser über die Kreuzungen und kurz vor dem Ziel verlor ich ihn aus den Augen. Ich fuhr auf das Gelände der Klinik, ging in die Erste Hilfe und läutete an der Tür.
    „Da können Sie lange warten, bis da mal jemand kommt“, sagten mir die Leute, die dort warteten.
    „Ich will nur wissen, wo mein Sohn ist.“
    „Da können Sie noch länger warten, wir warten schon seit Stunden.“
    „Wir werden sehen.“
    Ich läutete nochmals. Eine Schwester öffnete mürrisch die Tür.
    „Ich möchte zu meinem Sohn, Andreas Becker. Er wurde gerade eingeliefert.“
    „Setzen Se sich mal da hin, ich gehe nachschauen.“
    Die Leute aus dem Warteraum schauten mich bestätigend grinsend an.
    „Nein, ich will nicht warten, bis Sie wiederkommen. Ich möchte zu meinem Sohn.“
    „Ick sach doch, setzen Se sich da hin, ick fraje nach.“
    Da platzte mir der Kragen, was war an dem, was ich sagte, so schwer zu verstehen?
    „Das ist“, sagte ich völlig ruhig und zeigte auf die Tür, vor der sie stand, „eine Glastür. Wenn sie jetzt da hineingehen und die Tür schließen, ohne mir zu sagen wo ich meinen Sohn finde, dann ist diese Glastür die längste Zeit eine Glastür gewesen.“
    Sie war so erschrocken, dass sie den Fuß in der Tür stehen ließ, damit diese nicht zufallen konnte, wurde lang und länger
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