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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Autoren: Gitta Becker
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ankam, war er schon im Zimmer von Peter verschwunden.
    Einmal aber, als er über Weihnachten bei uns war, stand er ganz plötzlich auf und begann zu packen. Draußen schneite es dicke Flocken.
    „Was ist denn mit dir los?“, fragte ich ihn etwas irritiert.
    „Ich muss gehen“, antwortete Andreas.
    „Warum musst du gehen? Wir haben es doch gerade so schön gemütlich, oder etwa nicht?“
     „Doch, aber der Peter wartet auf mich.“
    „Der Peter wartet auf dich? Bist du dir sicher?“
    „Der wartet doch auf mich.“
    Es klang fast schon verzweifelt und voller Mitleid für den armen Peter, der auch über Weihnachten in der Einrichtung war, weil er keine Familie hatte.
    „Gut, das ist in Ordnung, aber schau einmal hinaus, draußen schneit es, es ist schon dunkel und ich will nicht mehr mit dem Auto fahren. Ist das in Ordnung, wenn ich dich morgen erst zurückbringe? Gleich morgen früh?“
    „Ja Mama, gleich morgen früh.“
    Am nächsten Morgen brachte ich ihn, wie versprochen, zu seinem Freund.
    Aus seiner Kindheit nahm Andreas seine Vorliebe für Kinderlieder und Benjamin Blümchen mit ins Erwachsenenalter. Seine zweite Leidenschaft gehörte der Volksmusik. Moderne Musik, wie seine Schwestern sie hörten, traf nicht seinen Geschmack, außer „The time of my life“ aus „Dirty Dancing“. Das schien er so zu mögen, erzählten mir seine Betreuer, dass er sie immer bat, das Radio lauter zu stellen, wenn das Lied kam.
    Wir versuchten alles, um seinen Musikgeschmack ein wenig zu beeinflussen, doch nichts half. Eines Tages traf ich zufällig den Wohnbereichsleiter der Gruppe, als ich Andreas abholte.
    „Sagen Sie mal, Frau Becker, könnten Sie Andreas nicht mal etwas anderes als Kinderlieder schenken?“
    „Nun, wenn Sie in sein Zimmer gucken, dann werden Sie sehen, dass da jede Menge Auswahl herrscht. Es gibt aber eine Alternative zu den Kinderliedern, von der ich definitiv weiß, dass er sie mag“, erwiderte ich grinsend.
    Ein Hoffnungsschimmer trat in seine Augen.
    „Was ist es? Alles andere wäre uns lieber.“
    „Ja, da wäre noch die Volksmusik.“
    Ich werde dieses Gespräch nun nicht weiter vertiefen.
    Andreas liebte zwei Fernsehsendungen über alles: die Ziehung der Lottozahlen und den sonntäglichen Gottesdienst. Nach Lottozahlen und Gottesdienst kamen noch Robbie, der Seehund und Charly, der Affe. Und natürlich Fußball. Er folgte der Handlung, die über den Bildschirm lief, allerdings nicht wirklich, vor allem nicht über einen längeren Zeitraum. Das konnte er nicht, auch nicht bei einem Fußballspiel.
    Andreas’ liebstes Hobby, Fußballbilder in Alben zu kleben, fing schon sehr früh an. Wo er war, da war auch immer ein Album, auch auf dem Klo. Aus mir unerfindlichen Gründen entschied er sich, ein Fan des FC Bayern München zu werden. Das ist nicht unser Verein und wird es auch niemals sein. Alle meine Versuche, ihn davon zu überzeugen, dass unser eigentlicher Heimatverein, der 1. FC Kaiserlautern, die bessere Wahl sei, liefen ins Leere. Auch mein Versprechen, mit ihm zu Hertha BSC, dem Verein, der in Berlin zu Hause ist, zu gehen, fruchtete nicht. FC Bayern, das war seine Entscheidung. Ich habe es zähneknirschend akzeptiert.
    Andreas’ innigster Weihnachtswunsch waren Fußballbilder und Alben. Sein innigster Geburtstagswunsch: na klar, Fußballbilder und Alben. Ich weiß nicht, wie viele Alben und Packungen wir gekauft haben, Jahr für Jahr, Saison für Saison, egal ob Bundesliga, Europa- oder Weltmeisterschaft. Gegen Ende der Saison kaufte ich auf Vorrat, damit wir über die Saure-Gurken-Zeit hinwegkamen und er kleben konnte, bis die neuen Alben der nächsten Saison auf dem Markt waren.
    Andreas war ein sehr höflicher junger Mann, stellte sich immer mit seinem kompletten Namen vor, auch bei Menschen, die er schon jahrelang kannte. Er stellte sich allerdings auch jedem in der Kneipe vor und verabschiedete sich von Tisch zu Tisch. Ich ließ ihn und die meisten der Gäste nahmen das an, denn er tat das immer mit dem freundlichsten Lachen, zu dem er im Stande war, auf dem Gesicht.
    Andreas’ Auftritte – im wahrsten Sinne des Wortes – schienen die Erde beben zu lassen. Er war mittlerweile riesig geworden, an die zwei Meter. Ihn genau zu messen war nicht möglich, da er sich nicht gerade aufrichten konnte. Mit ganzer Kraft und seinem unglaublichen Willen versuchte er es wieder und wieder, leider sprach wohl sein Gleichgewichtssinn dagegen.
    Andreas hat als erwachsener Mann niemals
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