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Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)

Titel: Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
Autoren: Gitta Becker
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mit mir gesungen, er hat zu Hause noch nicht einmal alleine gesungen, wohl aber im HPC. Ich war schon ein wenig neidisch, nicht in den Genuss seines Gesanges zu kommen. Ein einziges Mal sang er mir nach seinem Auszug ein kleines Lied vor. Es schneite draußen, dicke Flocken flogen am Fenster vorbei, und er saß am Esstisch, wie nicht anders zu erwarten seine Fußballalben vor sich ausgebreitet, die unzähligen Bilder neben sich, bereit für seine Arbeit. Als Andreas die Flocken wahrnahm, sich scheinbar alleine wähnte, begann er zu singen: „Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit…“
    Ich stand da, wie angewurzelt, nur nicht bewegen, nur kein Geräusch verursachen. Ich fühlte, wie sich Tränen in meinem Hals breitmachen wollten, so sehr rührte mich das. Ich sprach ihn an, sagte ihm, wie sehr mir sein Lied gefallen habe und ob er es später für seine Schwestern noch einmal singen wolle. Er sang es noch einmal für Claudia und für Christine und dann am Telefon ein weiteres Mal für seine Oma.
    Als er noch ganz klein war, gerade so im Schulalter, aß er zu Hause niemals Linsensuppe. Einmal kam ich während der Essenszeit in seine Schule. Ich sah meinen Sohn am Tisch sitzen und Linsensuppe in sich hineinschaufeln. Ich staunte nicht schlecht und interpretierte das so, dass ihm unsere Suppe zu Hause nicht schmeckte und wir sie gefälligst selbst auslöffeln sollten.

PLÖTZLICH ERWACHSEN
    Ein klein wenig traurig war ich schon, als ich bemerkte, dass Andreas sich sein Leben im HPC eingerichtet hatte. Ohne mich. Wir waren in die zweite Reihe zurückgetreten. Genauso wie ich traurig war, war ich aber auch froh über diese Entwicklung und glücklich, dass alles so gut geklappt hatte.
    Natürlich hat es auch mal Differenzen mit der Einrichtung gegeben, wir mussten uns aneinander gewöhnen. Ich habe einen Teil meiner Verantwortung abgegeben und musste lernen und akzeptieren, dass diese Verantwortung nun den dortigen Regeln unterstand. Solange Andreas gut versorgt war und sich vor allem wohl fühlte, war das alles in Ordnung für mich.
    Ich musste lernen, dass mein Maßstab dort keine Gültigkeit hatte. Andreas fühlte sich wohl in seiner zweiten Familie, war geborgen und behütet, wenn auch auf eine andere Art. Die gesamte Verantwortung habe ich niemals ganz abgegeben, denn ich hatte die Pflegschaft für meinen Sohn. Ich bekam immer Gelegenheit, das, was ich nicht gut fand, allen, die mit Andreas zu tun hatten, in einer Gesprächsrunde zu sagen. Nicht immer konnten meine Anliegen umgesetzt werden, was nicht am Willen der Einrichtung lag, sondern oftmals an der Personal- und Kostenstruktur. Ich würde mir wünschen, dass an diesen Stellen weniger gespart werden würde.
    Andreas hat es gut getan, nicht mehr von seiner Gluckenmama umsorgt und bewacht zu werden. Er erlangte Selbstständigkeit, auch wenn viele Hilfestellungen weiterhin notwendig blieben: Hilfe bei der Körperpflege, beim Anziehen, bei simplen Tätigkeiten im Alltag. Aber er ist im HPC erwachsen geworden, hat sich verliebt und einen Freund gefunden, mit dem er wie Pech und Schwefel zusammenklebte.
    Andreas hat ein soziales Umfeld erlebt, in dem er nicht das letzte und schwächste Glied am Ende der Kette war. Er war irgendwo zwischendrin, wobei ich der Überzeugung bin, dass in solchen Gruppen jeder einmal das erste, aber auch einmal das letzte Glied ist. Ganz sicher hat er sich auch Gedanken darüber gemacht, ob er uns besuchen könnte, ob sein Bedarf an Fußballbildern gedeckt würde, ob er genug zu essen und zu trinken haben würde. Er wollte immer unbedingt arbeiten gehen, hat es aber dann irgendwann akzeptiert, dass es nicht möglich war und sich seine eigene Welt geschaffen, in der er wichtige Aufgaben zu erfüllen hatte: beim Schichtwechsel der Betreuer genau zu schauen wer Dienst hat, die Stechkarten zu stempeln und jeden zu begrüßen, der begrüßt werden musste.
    Jeden Mittwoch rief er an, erzählte mit uns, als wohne er weit weg und nicht wenige Straßen weiter. Dabei fragte er auch gleich, ob er am Wochenende kommen würde und wenn, dass er dann gerne seine Cola, seine M&Ms und ganz viele Fußballbilder hätte. Er fuhr an die Ostsee in den Urlaub, hatte auch mal keine Zeit sich zu melden, weil er unterwegs war, entweder im Kino oder Pizza essen. Das war alles völlig normal. Er führte ein völlig normales Leben, so normal hätte ich es ihm nicht bieten können.
    Andreas ins HPC gehen zu lassen, auch wenn das früher als geplant
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