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Gabriel oder das Versprechen

Gabriel oder das Versprechen

Titel: Gabriel oder das Versprechen
Autoren: Wolfgang Voosen
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schickte? Kaum wagte er zu
atmen. Deutlich drangen Geräusche vom Treppenhaus zu ihm herab. Er
hörte das Zuschlagen der Tür. Das Klacken der Absätze einer Frau
auf den Stufen. Das leise Aneinanderschlagen von Schlüsseln. Das
Öffnen einer Tür, die kurz darauf ins Schloss fiel.
    Vorsichtig erhob er sich. Die
Zeitungen packte er wieder auf den Stapel und schlich durchs
Treppenhaus nach oben in den dritten Stock.

 
    59
    Emilienstraße 31, Freitag, 5. Juni,
23.40 Uhr
    Sandra war ein wenig bedrückt, denn
Niko hatte mit ihr in den Geburtstag hineinfeiern wollen. Doch sie
bat ihn, sich ein Taxi zu nehmen und nach Hause zu fahren. Sie sei
schrecklich müde und müsse morgen in aller Herrgottsfrühe
aufstehen, weil sie mehr Termine als üblich vereinbart habe. Er war
ein wenig traurig und es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Aber sie
blieb standhaft. Doch nur drei Minuten, nachdem sie sich unten
verabschiedet hatten, klingelte es. Sandra setzte Cäsar, der sie
freudig begrüßt und seine Streicheleinheiten erfolgreich
eingefordert hatte, rasch in sein Körbchen. Irgendwie war sie froh,
dass Niko sich offensichtlich über ihre Bitte hinwegsetzen wollte.
Wenn man liebt, verzeiht man alles, dachte sie - aufflammenden
Ärger unterdrückend - als sie den Summer betätigte und gleichzeitig
ihre Wohnungstür öffnete.
    Carlo stürzte sich aus der
Dunkelheit des Hausflurs auf sie und hielt ihr den Mund zu. Sie war
starr vor Schreck und gar nicht in der Lage zu schreien. Nur Cäsar
machte einen Buckel und fauchte den ungebetenen Gast böse an. Doch
unbeeindruckt schob Carlo Sandra vor sich her in die zur
Straßenseite gelegene Küche, klebte ihr ein Stück Tesa-Pack auf den
Mund, fesselte sie an Händen und Füßen und drückte sie auf einen
Küchenstuhl am Esstisch. »Kennst du mich noch? Erinnerst du dich an
mich?« Sandra nickte und versuchte, seinen Namen zu nennen. Aber
das misslang. Außer ein paar undefinierbaren Tönen war nichts zu
hören.
    »Für deinen Geburtstag müssen wir
uns etwas anderes überlegen«, fuhr er fort. »Das ist unwürdig, so
sein neues Lebensjahr zu beginnen. Wenn du mir versprichst, brav zu
sein und nicht zu schreien, dann entferne ich das Klebeband.
Versprichst du mir, nicht zu schreien? Sonst muss ich dir sehr weh
tun.« Wie zur Bestätigung seiner Drohung legte er das Faustmesser
seitlich vor sich auf den Tisch, an den er sich inzwischen auch
gesetzt hatte. Sie nickte heftig mit dem Kopf, was er als ihr
Einverständnis wertete. Er stand auf und entfernte ganz vorsichtig
das Klebeband. Seine Umsicht, die er dabei an den Tag legte, stand
ganz im Gegensatz zu seinem rücksichtslosen Vorgehen an der
Tür.
    »Weißt du, wann wir uns das erste
Mal gesehen haben?« Sandra versuchte sich zu beruhigen und vor
allem nicht zu weinen. Sie hatte darüber gelesen, dass man
Psychopathen gegenüber keine Schwäche zeigen dürfe und sicher
auftreten müsse. Es sei nicht immer der richtige Weg. Aber in den
meisten Fällen. Also wollte sie Stärke zeigen. »Ja, in Veras
Bistro. Du hast Niko und mir noch einen Drink gemacht, bevor wir
zusammen das Bistro verlassen haben.«
    »Richtig, das ist ja der Typ, dem du
als Einzigem ein ›Ja‹ auf deiner Karte gegeben hast.«
    »Woher weißt du das? Das sind doch
Daten, die nur Vera zu Gesicht bekommt. Zumindest hat sie das
versichert.«
    »Nun, die Auswertung überlässt sie
meistens mir«, log er. »Deshalb bin ich natürlich auch über alles
bestens informiert.«
    »Verstehe, Carlo!«
    »Nenne mich nicht so. Sonst muss ich
böse werden. Mein Name ist Gabriel, verstehst du, Gabriel!« fuhr er
sie an, was Sandra überrascht zur Kenntnis nahm. Sie merkte, dass
er aus dem Gleichgewicht zu bringen war und das gab ihr Hoffnung.
Aber zugleich musste sie sich auch eingestehen, was sie bis eben
nicht hatte wahrhaben wollen, obwohl alle Indizien dafür sprachen.
Mit der Nennung seines Namens, den er sich selbst gegeben hatte,
war es Gewissheit. Sie musste der Wahrheit ins Auge blicken: Ihr
gegenüber saß Gabriel, das Monster, das drei Frauen auf dem
Gewissen hatte. Sie musste Zeit gewinnen und ihn besänftigen.
Vielleicht geschah noch ein Wunder. Zeit gewinnen, war ihr einziger
Gedanke. »Kannst du aus dem Kühlschrank die Flasche Wasser nehmen
und mir ein Glas einschenken? Nimmst du auch eins?«
    Wortlos ging er an den Kühlschrank,
nahm zwei Gläser aus dem Regal und füllte sie mit Wasser. Er
stellte das Glas so vor sie hin, dass sie es mit ihren beiden
zusammengebundenen
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