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Gabriel oder das Versprechen

Gabriel oder das Versprechen

Titel: Gabriel oder das Versprechen
Autoren: Wolfgang Voosen
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Händen zum Mund führen konnte. Vorsichtshalber
legte er das Faustmesser hinter sich auf die
Arbeitsplatte.
    »Hier, trink. Dann können wir auch
besser miteinander reden!« Er schaute auf die Küchenuhr über der
Tür, deren großer Zeiger gerade in diesem Moment auf zwölf
sprang.
    »Na, dann herzlichen Glückwunsch zu
deinem 32. Geburtstag! Auf ein langes Leben mit dir anzustoßen,
wäre unpassend, ja vielleicht sogar ein bisschen zynisch«, kicherte
er.
    Sandra merkte, wie die Tränen in ihr
hochstiegen und deutlich wahrnehmbare Angst sie erneut beschlich.
Du musst stark bleiben, zeige keine Schwäche, dachte sie. Laut,
fast ein wenig zu laut, sagte sie: »Und auf was stoßen wir dann
an?«
    »Ja, auf was stoßen wir an? Wir
könnten doch darauf anstoßen, dass unser kleines Spiel, das ich
gleich mit dir spielen will, uns beiden Spaß macht.« Für Sandra
klang das so, als wollte er sie zwingen, sich ihm hinzugeben. Aber
das passte überhaupt nicht zu dem, was in den Zeitungen über die
vorangegangenen Taten zu lesen war. Seine Opfer hatte er nie
vergewaltigt. »Wie meinst du das?«
    »Wir machen jetzt unser ganz
privates Speed-Dating. Nur wir beide. Ganz allein. Neun Minuten
werden wir für unser Gespräch Zeit haben. Die Zeit läuft … ab
jetzt.« Noch wirkte er ruhig und gefasst. Seine Stimme hatte fast
die eines Moderators, der seinen Teilnehmern die Spielregeln
erklärt. Er nahm sein Handy und stellte die Weckzeit auf 0.13 Uhr,
denn augenblicklich war es vier Minuten nach
Mitternacht.
    »In unserem Gespräch geht es um
Aufrichtigkeit und Wahrheit. Alles was du mir sagen wirst, muss
wahr sein!« Er sagte das mit einem bedrohlichen Unterton in seiner
Stimme, was Sandra nicht verborgen blieb. »Und warum sollte ich dir
die Wahrheit sagen?« entgegnete sie - ihren ganzen Mut
zusammennehmend - so forsch wie ihr es in der augenblicklichen
Situation nur möglich war. Denn sie wollte ihre einmal
eingeschlagene Taktik nicht ändern, obwohl ihr zum Heulen zumute
war. Hätte ich doch bloß nicht Niko weggeschickt, dachte sie.
»Damit dir deine Sünde vergeben wird«, riss seine Antwort sie aus
ihren Gedanken.
    »Welche Sünde?« Zeit gewinnen, war
ihr einziges Ziel. Vielleicht überlegt Niko es sich noch und kommt
zurück. Bitte, Niko, sei mir nicht böse. Eigentlich wollte ich
doch, dass du bleibst. Komm zurück, bitte, komm zurück! Solche und
ähnliche Gedanken schössen ihr durch den Kopf, während sie
versuchte, ihn hinzuhalten und ihr gleichzeitig die Bedrohung durch
ihn immer bewusster wurde. »Deine Sünden heißen … Hochmut… Stolz …
Arroganz!« Zwischen den Wörtern, die er drohend hervorstieß, ließ
er immer eine kleine Pause. Sie wirkten auf Sandra wie
Peitschenhiebe.
    »Wieso willst du das wissen? Du
kennst mich doch gar nicht? Wie kannst du dich dann zum Richter
aufschwingen?« unternahm Sandra einen weiteren Versuch, ihn zu
provozieren. Aber die scheinbare Selbstsicherheit, mit der sie ihn
anfangs noch zu beeindrucken versuchte, war längst gewichen.
Deutlich war ihr anzumerken, dass Angst und Furcht sich ihrer
bemächtigt hatten. »Du irrst dich. Ich kenne dich gut«, erwiderte
Gabriel unbeeindruckt. Offensichtlich hatte ihn ihre provozierende
Antwort nicht zu irritieren vermocht. »So? Und woher? Von den
wenigen Minuten an der Bar?« Immer wieder versuchte Sandra, das
Gespräch in Gang zu halten. Nur nicht schweigen. Reden! »Nein, ich
weiß eine ganze Menge über dich. Nicht nur, dass du nur Niko ein
›Ja‹ gegeben hast«, wiederholte er, was er ihr vor wenigen Minuten
schon einmal offenbart hatte.
    »Ach, und auf ihn bist du jetzt
eifersüchtig?«
    »Nein, aber du hast die Anderen
verletzt. Du hast ihnen jegliche Hoffnung genommen. So hast du dich
versündigt. Und das muss gesühnt werden! Dazu habe ich den
göttlichen Auftrag!«
    Immer bedrohlicher wurde seine
Stimme. Je länger das Gespräch dauerte, desto stärker veränderte
sich auch seine Mimik. Mehr und mehr wirkte er, als sei er gar
nicht mehr er selbst. Nichts mehr erinnerte an den freundlichen
Carlo. Vor ihren Augen mutierte er auch äußerlich zum
Racheengel.
    *
    Sandra schaute ängstlich auf die
Küchenuhr, die inzwischen acht Minuten nach Mitternacht zeigte. Sie
war verzweifelt. Noch fünf Minuten blieben ihr, bis das
Klingelzeichen seines Handys ertönen würde. Vielleicht das Signal,
sie zu töten …

 
    60
    Emilienstraße 31, Samstag, 6. Juni,
0.08 Uhr
    Marc sah zum immer noch erleuchteten
Fenster von Sandras Wohnung hoch.
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