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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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dass sie mich verletzt.« Ist Claudia einfach nur egoistisch, wie Annika vermutet? Der Schweizer Psychoanalytiker und Psychotherapeut Udo Rauchfleisch meint dazu: »Solch ein Kontaktabbruch hat schon etwas sehr Egoistisches! Darunter liegt aber vor allem extreme Unsicherheit, sich nicht artikulieren zu können, sich nicht zu trauen, oder aber die Situation, dass jemand denkt: Jetzt habe ich das x-mal angedeutet. Jetzt reicht’s, jetzt geh’ ich, weil die andere Person zu wenig sensibel ist. Ich würde das nicht einfach unter Egoismus subsumieren.«
    Ute sucht seit 17 Jahren nach dem Grund für den Kontaktabbruch der Schwester. Natürlich, denke ich, wir wollen offenbar wissen, aus welchem Grund die Dinge in unserem Leben geschehen.
    »Man lebt damit wie mit einem abgeschlagenen Bein«
    Die 72-jährige Lisa-Maria W. wirkt gefasst. Ich treffe die gutaussehende ältere Dame, ihre 42-jährige Tochter Christine und die 18-jährige Enkelin Anna das erste Mal in einem Café in Kiel. In unserem Gespräch geht es um Michael (46), den ältesten Sohn von Lisa-Maria W., der vor rund zwei Jahrzehnten den Kontakt zu ihr abgebrochen hat. Mit seinen Geschwistern – es gibt außer der Schwester noch einen älteren Bruder, Christian (44) – und den Nichten und Neffen hält Michael Kontakt, wenn man das so nennen kann. »Ja, wir haben Kontakt zu ihm, aber es kann auch passieren, dass wir verabredet sind und er nicht kommt, ohne abzusagen, dass er mitten im Gespräch aufsteht und geht. Und wenn wir vorsichtig versuchen, ihn auf unsere Mutter anzusprechen, droht er uns mit Kontaktabbruch. Also halte ich mich zurück. Ich habe einfach Mitleid mit ihm, will nicht, dass er dann gar niemanden mehr hat«, beschreibt Christine das Verhältnis zu ihrem Bruder.
    Ihre Tochter Anna führt den Gedanken weiter: »So kann doch kein Mensch glücklich sein, ob er das jetzt mit Absicht macht oder nicht, das sei dahingestellt. Das glaube ich auch nicht, aber ich glaube auch nicht, dass er glücklich ist und wenn, wird er auch nicht mehr lange glücklich sein mit der Art, die er an den Tag legt.«
    Lisa-Maria W. hört zu, scheint gelernt zu haben, mit dem fehlenden Kontakt zu ihrem ältesten Sohn zu leben. Schließlich nimmt sie das Gespräch auf. Natürlich überlebe man das. »Man lebt damit, wie mit einem Geschwür oder einem abgeschlagenen Bein«, schildert sie das Lebensgefühl ohne ihren Sohn. Sie erzählt von dem Bruch, dem Schweigen, der Ablehnung und der Zeit der Versuche, ihrem Sohn wieder näherzukommen. Immer wieder habe sie den Kontakt gesucht, habe Briefe geschrieben, einige abgeschickt, einige für sich behalten. An den Geburtstagen habe sie angerufen und Geschenke geschickt. Keine Reaktion. Irgendwann schrieb sie keine Briefe mehr, rief nicht mehr an, schwieg: »Es muss eine wechselseitige Kommunikation sein. Es hat keinen Zweck, wenn der Eine immer nur klopft und der andere nicht hinhört. Das geht nicht mehr. Über diesen Punkt des Hinterherkriechens bin ich weg. Ich lass’ ihn jetzt in Ruhe.«
    Warum bricht ein Sohn den Kontakt zur Mutter ab? Warum haben die anderen Kinder ein inniges, gar herzliches Verhältnis zu ihrer Mutter? »Wenn sie eine schlechte Mutter gewesen wäre, dann doch auch für uns«, meint Tochter Christine. Hinzu kommt, dass Lisa-Maria W. immer wieder Pflegekinder aufnahm, und das sogar bis heute. Die Geschwister erinnern sich im Gegensatz zu Michael an eine behütete und liebevolle Kindheit. Ahnt die Mutter wirklich nicht, warum ihr Sohn partout keinen Kontakt zu ihr haben will? Nach einigen weiteren Besuchen, die im Haus von Lisa-Maria W. in der Nähe von Kiel stattfanden, erklärte sie mir ziemlich überraschend: »Ich weiß, dass ich Michael selten gestreichelt habe. Das ist mir vor zehn Jahren erst aufgefallen, als ich Enkel kriegte. Da merkte ich, irgendetwas habe ich bei dem ja gar nicht gemacht.« Dann bricht es aus ihr heraus: »Also, wissen Sie was? Ich gebe mir alle Schuld der Welt. Ich bin aber nicht so vermessen zu sagen, das stört mich nicht. Doch, es stört mich. Doch, das tut es – meine Seele hat oft geweint.«
    Auch wenn der Experte die Mutter nicht von ihrer Mitverantwortung freisprechen möchte, warnt er davor, die Mütter für sämtliche Fehlentwicklungen der zwischenmenschlichen Kommunikation in der Familie verantwortlich zu machen: »Es heißt immer, die Mutter ist schuld, interessanterweise wird nicht auf den Vater verwiesen, der ja auch zur Erziehung beiträgt. Der Vater hat nämlich
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