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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Stelle unaushaltbar, deshalb bin ich aus dem Kontakt rausgegangen, um diese Verletzung und den Verlust nicht permanent zu fühlen. Ich ertrug es nicht mehr, konnte aber mein Dilemma nicht verständlich machen. Alles hat mit einer tiefen Verletzung zu tun. Ich fühlte mich von meiner Mutter nicht geliebt und verstanden, sonst hätte ich mich ihr ja anvertrauen können. Ich habe dann den Kontakt abgebrochen, um innerlich nicht ganz zu zerbrechen«, so Maja.
    Der Abbrecher hat oft das Gefühl, ungeliebt zu sein und hat auch oft selbst die Fähigkeit zu lieben verloren. Der andere fordert etwas von ihm, von dem er selbst nicht genug hat. Und der Verlassene versteht nicht, dass der Abbrecher unter Liebesmangel leidet. Er war doch schließlich immer da. Dass die Loslösung oft schon vor dem eigentlichen Kontaktabbruch erfolgte, kann der Verlassene nicht erkennen. Er leidet unter der Kränkung des Zurückgelassen-Seins. Das Gefühl der Verletzung trübt auf beiden Seiten die Wahrnehmung. Das Bedürfnis, das Verhalten und die Beweggründe des jeweils anderen zu verstehen, und das Vermögen, ihm auch »negative« Gefühle zuzugestehen, sind in Mitleidenschaft gezogen. Wenn ein Familienmitglied den Kontakt abbricht, erschüttert es damit die Grundsicherheit der ganzen Familie, sagen Experten. Es fehlte in dieser Familie vielleicht das Handwerkszeug, um Konflikte zu lösen. Fest steht, dass die Funkstille als »Lösungsmittel« in Familien, in denen sie schon einmal praktiziert wurde, immer wieder auftaucht. Die Funkstille wird so zum Verhaltensmuster. »Wir werden verlassen oder wir verlassen, ungerecht behandelt und betrogen. Und immer wieder scheint das Szenario sich zu wiederholen. Wir erleben erneut die gleichen Dramen, weil wir uns immer wieder gleich verhalten«, beobachten Verhaltenstherapeuten. Trifft eine Kränkung auf einen wunden Punkt, werden auch unverarbeitete Verletzungen der Vergangenheit reaktiviert. Aber: »Man kann nicht auf Dauer vor sich selbst weglaufen. Man kann die Baustellen der Vergangenheit nicht schließen, indem man sie umfährt«, sagt einer der von mir befragten Psychologen. Man muss den Schmerz über Dissonanzen aushalten können. Aber wie stellt man sich schmerzhaften Auseinandersetzungen, wenn man verunsichert und verletzt ist, nicht weiß, was man wirklich fühlt, keine Kraft für den Konflikt hat, sich schämt oder enttäuscht ist? Bietet es sich da nicht an, das Schweigen als Mittel zu wählen, um gehört zu werden?
    Sind Funkstille und Beziehungsabbruch möglicherweise auch Zeichen einer Zeit, in der enge Bindungen durch die stetige Beschleunigung des Lebens und das Primat der Selbstbestimmung, der Mobilität und Flexibilität in besonderer Weise auf dem Prüfstand stehen? »Konflikt = Stress – die Anstrengung spare ich mir lieber«, scheinen viele Menschen zu denken.
    Wie aber kann man sich von den Problemen der Gegenwart befreien, ohne den Bezug zur Vergangenheit zu verlieren? Den Erscheinungsformen der Funkstille, ihren Ursachen und Folgen soll in diesem Buch nachgegangen werden. Es wird um Verletzungen gehen, um Angst und um die Suche nach einem Schutzraum, um die Unmöglichkeit der Kommunikation und letztlich darum, sich vielleicht doch wieder begegnen zu können. Die Erfahrungen der Menschen, die bereit waren, mit mir über die Funkstille in ihrem Leben zu sprechen, haben vieles erhellt. Manche von ihnen sind inzwischen wieder miteinander in Kontakt. Für sie war die Funkstille kein endgültiger Schlussstrich unter die Beziehung. Bei anderen sieht es so aus, als müssten sie eine Zukunft hinnehmen, in der der Abbrecher dauerhaft fehlt. Wie hängt das Verhalten des Abbrechers mit dem des Verlassenen zusammen? Wie sieht die Lebenswelt des Verlassenen aus, der von einem Tag auf den anderen ohne den einst nahen Menschen – und ohne Antworten – weiterleben muss? Wie ergeht es den Abbrechern? Im Folgenden sollen beide Seiten eingehend beleuchtet werden und Betroffene zu Wort kommen.

Erstes Kapitel
    Die Verlassenen
    »Dieses Schweigen ist wie eine offene Wunde«
    Mit der Sichtweise der Verlassenen verknüpfen sich Gefühle, die so ambivalent sind, dass man sich wundern muss, wenn Zurückgebliebene darüber nicht verrückt werden. Derjenige, der den Kontakt abbricht, der Abbrecher, fehlt. Sein Fehlen ist wie die scharf umrissene Leere auf einer Fotografie, aus der jemand eine Gestalt mit einem präzisen Scherenschnitt herausgelöst hat, und nun ist die fehlende Gestalt wichtiger,
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