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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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beherrschender als alles andere. Er ist gerade durch seine Abwesenheit ständig präsent.
    17 Jahre ist es her, dass Claudia den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat. Es war ein totaler Bruch mit dem bis dahin gelebten Leben. Ute vermisst die große Schwester Claudia sehr: »Claudia brach ganz plötzlich den Kontakt zur gesamten Familie ab, zu meinen Kindern, zu unserer Mutter, Tante, Freunden, ihrem Ex-Mann. Sie war plötzlich weg. Man muss dabei wissen, dass Claudia ein Teil meiner Familie war und gerade zu ihrer Nichte, zu Annika, meiner Tochter, ein sehr enges Verhältnis hatte. Annika ging mit ihren Problemen zu Claudia, nicht zu mir. Meine Schwester war ein vollwertiges Mitglied unserer Familie«, betont Ute im Gespräch mit mir, und gerade weil sie dies so vehement unterstreicht, überlege ich, ob es wirklich so war. Dennoch, die Schwestern hatten ein enges Verhältnis zueinander, fuhren gemeinsam in den Urlaub, feierten zusammen; die Kinder – Claudias Tochter und Utes Kinder – spielten miteinander. Claudias Tochter starb neunjährig an Krebs. Danach wurde der Kontakt zwischen den Schwestern noch enger, meint Ute. Zu eng?, frage ich mich unwillkürlich. Nähe macht verletzlich.
    Ute lebt heute mit Tochter Annika (22) in einer freundlichen Dachwohnung in Hamburg. Die Möbel sind weiß, Fotos hängen an der Wand, auch Claudia ist darauf zu erkennen. Die Wände sind bemalt. Ute und Annika haben die Einrichtung bei Ikea erstanden, weil beide dort arbeiten. Die Zimmer wirken neu eingerichtet, und sie sind es auch. Mutter und Tochter wohnen erst seit einem Jahr zusammen. Utes Söhne Tobi (25) und Benni (19) wohnen in der Nähe. Ihr Mann, mit dem sie eine große Gärtnerei betrieb, hat sich vor Kurzem von Ute getrennt, nach 30 gemeinsamen Jahren. »Natürlich ist das auch ein Grund, warum mir Claudia jetzt besonders fehlt. Ich hätte sie gebraucht, aber so wiederholt sich nur ein drittes Mal in meinem Leben eine Geschichte des Verlassen-Werdens«, erzählt Ute mir.
    Sie geht in die Küche und setzt einen Kaffee auf, kommt zurück, und es ist offensichtlich, dass sie geweint hat. Die Trennung von ihrem Mann ist frisch, sie tut noch weh, aber das allein ist es nicht. Sein Verlassen der Familie ruft bei Ute geradezu traumatische Erinnerungen wach. Die Trennung hat einen wunden Punkt getroffen, unverarbeitete Verletzungen aus Utes Vergangenheit reaktiviert. »Warum kann man vergangene Verletzungen nicht einfach abschütteln?«, fragt Ute mich.
    Die Frage bleibt im Raum stehen.
    Die 55-Jährige wirkt plötzlich hilflos wie ein kleines Kind, und das nicht zum ersten Mal. Sie kann es weder ertragen noch akzeptieren, dass sie ihre Schwester für immer verloren haben soll. Auch Annika, die eine besonders enge Beziehung zu ihrer Tante hatte, ist wütend: »Jemanden anzuschweigen ist im Zwischenmenschlichen die größte Strafe überhaupt, einfach nicht zu sagen, was los ist und abzuhauen. Dieses Schweigen ist wie eine offene Wunde, die immer klafft und die sich nicht schließen kann, weil es den Faden zum Zunähen nicht gibt, weil es die Antwort auf das ›Wieso bist du gegangen?‹ nicht gibt. Es ist einfach wahnsinnig feige, ist purer Egoismus. Der Abbrecher ist ja offenbar unfähig, sich reif und vernünftig mit seinem Gegenüber auseinanderzusetzen. Von einem erwachsenen Menschen sollte man aber erwarten, dass er Verantwortung für sein Handeln übernimmt, sagt: ›So sehe ich das, tut mir leid, aber ich kann nicht anders, weil …‹«.
    Im Laufe unserer vielen Gespräche werde ich mehr als einmal erstaunt sein, wie klar, überlegt, fast schon weise die 22-Jährige die Situation einer Funkstille erfasst, eher intuitiv, nicht forschend, aber klar und kompromisslos. Annika ist es auch, die immer wieder ihre Mutter an die Hand nimmt und ihr vorsichtig rät, das Verhalten der Schwester endlich zu akzeptieren oder sie zu suchen, um endlich eine Antwort auf die Frage nach dem »Warum« zu bekommen. Ihre Mutter könne dann endlich einen Schlussstrich ziehen oder aber den Faden wieder aufnehmen, hofft die Tochter.
    Ute wirkt abwesend, doch sie hat ihrer Tochter gut zugehört, und langsam wächst in ihr ein Plan. Annika ist fest davon überzeugt, dass nur jemand selbstbestimmt lebt, der es versteht, sich zur Sprache zu bringen. Ute ihrerseits ist nicht wütend, sondern einfach nur traurig. Sie fühlt sich schwach, empfindet ihre Schwester eher als hart, unnachgiebig und, ja, manchmal auch als böse. »Sie muss doch wissen,
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