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Funke, Cornelia

Funke, Cornelia

Titel: Funke, Cornelia
Autoren: Rekkless
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Arbeitszimmer seines Vaters stand offen. Will betrat das Zimmer nie. Er
ignorierte alles, was mit seinem Vater zu tun hatte.
    Clara trat
zögernd hinein. Bücherregale, ein Vitrinenschrank, ein Schreibtisch. Die
Flugzeugmodelle, die darüberhingen, trugen den Staub wie schmutzigen Schnee
auf den Flügeln. Das ganze Zimmer war verstaubt und so kalt, dass sie ihren
Atem sah.
    Zwischen
den Bücherregalen hing ein Spiegel.
    Clara trat
darauf zu und strich über die silbernen Rosen, die den Rahmen bedeckten. Sie
hatte noch nie etwas Schöneres gesehen. Das Glas, das sie umfassten, war so
dunkel, als wäre die Nacht darin ausgelaufen. Es war beschlagen, und dort, wo
sich Claras Gesicht spiegelte, war der Abdruck einer Hand zu sehen.
     
    5
     
    SCHWANSTEIN
     
    Das
Laternenlicht füllte die Straßen von Schwan stein wie
verlaufene Milch. Gaslicht und hölzerne Kutschräder, die über holpriges
Kopfsteinpflaster rollten, Frauen in langen Röcken, die Säume nass vom Regen.
Die feuchte Herbstluft roch nach Rauch, und Kohlenasche schwärzte die Wäsche,
die zwischen den spitzen Giebeln hing. Es gab inzwischen einen Bahnhof gleich
gegenüber der Postkutschstation und ein Telegrafenbüro. Ein Fotograf bannte
steife Hüte und berüschte Röcke auf Platten aus Silber, und Fahrräder lehnten
an Hauswänden, an denen Plakate vor Wassermännern und Goldraben warnten.
Nirgendwo ahmte die Spiegelwelt die andere Seite so eifrig nach wie in
Schwanstein, und Jacob hatte sich natürlich schon oft gefragt, wie viel von
alldem durch den Spiegel gekommen war, der im Arbeitszimmer seines Vaters hing.
Im Museum der Stadt gab es ein paar Dinge, die verdächtig nach der anderen
Welt aussahen. Ein Kompass und eine Kamera kamen Jacob sogar so bekannt vor,
dass er sie für das Eigentum seines Vaters hielt, aber niemand hatte ihm sagen
können, wohin der Fremde verschwunden war, der sie hinterlassen hatte.
    Die
Glocken der Stadt läuteten den Abend ein, als Jacob die Straße hinunterging,
die zum Marktplatz führte. Vor einem Bäckerladen verkaufte eine Zwergin
geröstete Kastanien. Der süße Duft mischte sich mit dem Geruch der Pferdeäpfel,
die überall auf dem Straßenpflaster lagen. Die Idee des Automotors war bislang
nicht durch den Spiegel gedrungen, und das Denkmal auf dem Marktplatz war das
Reiterstandbild eines Fürsten, der in den umliegenden Hügeln noch Riesen
erschlagen hatte. Er war ein Vorfahre der derzeitigen Kaiserin, Therese von
Austrien, deren Familie nicht nur Riesen, sondern auch Drachen so erfolgreich
gejagt hatte, dass beide in ihrem Herrschaftsgebiet als ausgestorben galten.
Der Zeitungsjunge, der neben dem Denkmal die neuesten Nachrichten in den Abend
rief, hatte deshalb sicher nie mehr als den Fußabdruck eines Riesen oder die
Spuren von Drachenfeuer an der Stadtmauer zu Gesicht bekommen.
    Entscheidende
Schlacht, hohe Verluste ... General gefallen ... geheime Verhandlungen mit den
Goyl ...
    Es
herrschte Krieg in der Spiegelwelt und er wurde nicht von Menschen gewonnen.
Vier Tage waren vergangen, seit Will und er einem ihrer Stoßtrupps in die Arme
gelaufen waren, aber Jacob sah sie immer noch aus dem Wald kommen: drei
Soldaten und einen Offizier, die steinernen Gesichter feucht vom Regen. Augen
aus Gold und schwarze Klauen, die den Hals seines Bruders aufrissen ... Goyl.
    »Pass auf deinen Bruder auf, Jacob.«
    Er drückte
dem Jungen drei Kupfergroschen in die schmutzige Hand. Der Heinzel, der auf
seiner Schulter hockte, beäugte sie voll Misstrauen. Viele Heinzel schlossen
sich Menschen an und ließen sich von ihnen füttern und kleiden, was allerdings
nichts an ihrer ständig schlechten Laune änderte.
    »Wo stehen
die Goyl?« Jacob nahm sich eine Zeitung.
    »Keine
fünf Meilen von hier.« Der Junge zeigte nach Südosten. »Wenn der Wind günstig
stand, hat man die Schüsse gehört. Aber seit gestern ist es still.« Er schien
fast enttäuscht. In seinem Alter klang selbst der Krieg nach Abenteuer.
    Die
kaiserlichen Soldaten, die aus dem Wirtshaus neben der Kirche kamen, wussten es
sicher besser. ZUM MENSCHENFRESSER. Jacob war Zeuge bei dem Ereignis gewesen,
das dem Wirtshaus seinen Namen gegeben und seinen Besitzer den rechten Arm
gekostet hatte.
    Albert
Chanute stand mit mürrischer Miene hinter dem Tresen, als Jacob in die dunkle
Schankstube trat. Chanute war ein so feister Klotz von Mann, dass man ihm
nachsagte, Trollblut in den Adern zu haben - nicht gerade ein Kompliment in der
Spiegelwelt -, aber bis der
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