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Für jede Lösung ein Problem

Für jede Lösung ein Problem

Titel: Für jede Lösung ein Problem
Autoren: Kerstin Gier
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was er benutzte, lag ebenfalls herum. Klamotten, Socken, Unterwäsche, Teller, Besteck, Pizzakartons, Bierflaschen, Hanteln, Papiere, Bücher und Müll. Meine Wohnung war klein, und deshalb störte es mich sehr, auf Schritt und Tritt über Ulrich und seine Sachen zu stolpern. Aber Ulrich meinte, weil er die Hälfte der Miete zahlte, dürfe er auch »er selbst sein«, wie er es nannte. Dazu gehörte, dass er Heilerde-Meersalz-Bäder nahm und danach nie die braune Kruste aus der Wanne entfernte. Dass er alle Jogurts aß, aber niemals neue kaufte. Dass er die Milch aus dem Kühlschrank nahm, sie aber nie zurückstellte. Dass er Bonbons aß und die Verpackung einfach auf den Boden fallen ließ.
    Obwohl Ulrich sehr viel Wert auf Körperhygiene legte und selber peinlich sauber und gepflegt war, fing die Wohnung an zu stinken. Nach Ulrichs Socken, seinen Turnschuhen und den Essensresten, die er überall vergammeln ließ. Egal, was ich auch versuchte und wie ich auch argumentierte, Ulrich wollte »er selbst« bleiben und weiter rumliegen und rumliegen lassen.
    »Wenn es dich stört, dann räum es halt selber weg«, war seine Standard-Antwort, und so fing ich an, mit Gegenständen nach ihm zu werfen, bevorzugt mit Turnschuhen, Jogurtbechern und Wirtschaftsrecht-Büchern.Das Milchkännchen war ein reines Versehen gewesen.
    Irgendwann liebte ich Ulrich nicht mehr, in dem ganzen Chaos waren seine guten Eigenschaften völlig verloren gegangen. Als ich endlich Schluss machte und meine Wohnung wieder für mich hatte, war ich wochenlang einfach nur sehr erleichtert. Ulrich und ich schafften es sogar, Freunde zu bleiben. Es war wieder richtig schön, sich mit ihm zu treffen, ohne ihn anzuschreien oder mit Sachen zu bewerfen. Beinahe hätte ich mich von neuem in ihn verliebt, aber da fing er was mit meiner besten und ältesten Freundin Charly an und zog bei ihr ein.
    Es tat schon ein bisschen weh, dass Ulrich nun in Charlys Wohnung herumlag, und ich musste öfter schlucken, wenn Charly bei mir über seine Socken auf dem Couchtisch, die krustigen Heilerde-Meersalz-Ränder in der Badewanne und die leergefutterten Jogurtbecher hinterm Sofa stöhnte. Richtig weh tat es allerdings erst, als Ulrich sein Jura-Studium beendet hatte (im Liegen, herzlichen Glückwunsch!) und schlagartig aufhörte, »er selbst« zu sein. Sein neues Selbst trug einen Anzug und verließ jeden Morgen pünktlich um acht Uhr die Wohnung, um massenhaft Kohle zu scheffeln. Von dieser Kohle bezahlte Ulrich – und das war die Krönung! – eine Putzfrau, die zweimal in der Woche kam. Ab und zu ließ er sicher noch ein Bonbonpapierchen auf den Boden segeln, aber alles in allem war er nicht wiederzuerkennen. Die Wohnung auch nicht. Im letzten Jahr haben Ulrich und Charly geheiratet, und ich war einer der Trauzeugen und musste so tun, als ob ich mich für die beiden freuen würde.
    Natürlich habe ich mich schon selber gefragt, ob ich wirklich zu anspruchsvoll bei der Partnersuche war, aber was konnte ich dafür, dass meine Hormone keinen Freudentanz aufführten, wenn sie hammerhart31 gegenübersaßen?
    Es war eine harte Lektion, aber allmählich begriff ich, dass es Dinge gibt, die sich, egal, wie systematisch man das auch angeht, einfach nicht planen lassen.
    Letzte Woche, genau drei Tage, bevor meine Mutter mir die Schlaftabletten übergab, rief Charly an, um mir mitzuteilen, dass ich Patentante werden würde. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstand, was sie meinte.
    »Du bist schwanger!«, rief ich dann aus.
    »Jaaaa«, jubelte Charly. »Verdammte Scheiße, ist das nicht wunderbar?«
    Tja, was für eine Frage! Es war ohne Zweifel wunderbar. Für Charly und für Ulrich. Für mich war es ziemlich furchtbar, ich war selber überrascht, wie furchtbar es für mich war.
    Ich schaffte es gerade noch, mir einen Glückwunsch abzuringen, bevor ich behauptete, die Milch koche über, und schnell auflegte.
    Dann brach ich weinend über dem Küchentisch zusammen und verstand die Welt nicht mehr. Was war aus mir geworden? Ein neidisches, missgünstiges Monster, dass sich noch nicht mal über die schönste Sache der Welt freuen konnte: Meine beste Freundin bekam ein Kind, und ich, ich wollte am liebsten sterben.
    Ja wirklich. Am liebsten wäre ich tot gewesen.
    Als mir das klar wurde, hörte ich vor Schreck auf zu weinen und überlegte – typisch Jungfrau eben –, was ich dagegen tun konnte. Zuerst schaute ich im Internet unter »Selbstmordgedanken« nach und diagnostizierte
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