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Fuer den Rest des Lebens

Fuer den Rest des Lebens

Titel: Fuer den Rest des Lebens
Autoren: Zeruya Shalev
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geführt haben könnte, bis ein Spezialist in Tel Aviv schließlich entschied, sie habe nichts am Gehirn, sie habe einfach Angst davor, zu laufen, Sie müssen etwas finden, hatte er gesagt, was ihr noch mehr Angst macht.
    Warum soll man ihr noch mehr Angst machen?, fragte ihr Vater, und der Arzt antwortete, Sie haben keine Wahl, wenn Sie wollen, dass sie läuft, müssen Sie dafür sorgen, dass sie vor Ihnen noch mehr Angst hat als vor dem Laufen. Von da an schlang ihr großer, schöner Vater ihr ein Handtuch um den Rücken, führte sie an diesem Geschirr, versuchte, sie zum Laufen zu bringen, und er versetzte ihr kräftige Schläge, wenn sie sich weigerte. Ich tu das für dich, Chemdale, hatte er heiser hervorgestoßen, in ihr vom Weinen geschwollenes Gesicht, damit du wie die anderen Kinder bist, damit du aufhörst, Angst zu haben, und der Arzt hatte recht behalten, ein paar Wochen später machte sie schon die ersten, schwankenden Schritte, der Körper glühend von seinen Schlägen, mit versteinertem Bewusstsein, dem Bewusstsein eines kleinen, grausam dressierten Tieres, und weit entfernt von jedem Triumph, weit entfernt von jeder Freude verstand sie verschwommen, dass es, auch wenn sie es schaffen würde, zu laufen und zu rennen, keinen Ort gab, zu dem zu laufen sich lohne.
    Trotzdem kommt es ihr an diesem Morgen vor, als wisse sie, wohin sie zu gehen habe, zum Fenster, Chemda, um deinen See zu sehen und sein Flüstern zu hören. Wenn ich es zu dir geschafft habe, flüstert er, wenn ich mein ganzes grünes Wasser zusammengesammelt habe, die Fischzucht und all die Zugvögel, wenn ich es geschafft habe, vor deinem Fenster zu erscheinen, trotz all der Mühe, die man sich mit meiner Vernichtung gemacht hat, warum stehst du dann nicht aus dem Bett auf und kommst zum Fenster, um nach mir zu schauen? Und sie antwortet ihm mit einem Seufzer, vor ein paar Wochen konnte ich, wenn auch langsam, noch durch den Flur laufen, warum bist du damals nicht gekommen? Warum bist du gerade jetzt gekommen, nach meinem Sturz, und nicht nur du, schon immer kommt alles zu spät oder zu früh zu mir, doch er sagt, komm zu mir, Chemda, komm zum Fenster, und sie bewegt erstaunt den Kopf, was war in all diesen Jahren, und wozu waren sie gut, wenn sie kein Zeichen hinterlassen haben, wenn sie heute noch das kleine Mädchen ist, das sich danach sehnt, nackt in seinem See zu baden.
    Mit krummen Fingern versucht sie, das Nachthemd von der Haut zu streifen, ein Geschenk ihrer Tochter, schon immer ist es ihr schwergefallen, angemessen auf solche Geschenke zu reagieren, obwohl sie stets schön und großzügig waren. Mach auf, Mama, drängte ihre Tochter, ich bin stundenlang von einem Geschäft ins andere gezogen, bis ich etwas gefunden habe, das mir gefallen hat, mach schon auf, probier’s an, gefällt es dir? Und sie zerriss das prächtige Einwickelpapier, begutachtete misstrauisch das weiche Päckchen, der Geruch, den es verströmte, der Anblick, der sich dahinter verbarg, die Landschaften, durch die ihre Tochter ohne sie gegangen war, all das weckte einen plötzlichen Widerstand in ihr, sie sagte danke, wirklich, vielen Dank, Dina, das ist doch nicht nötig gewesen, zerdrückte die leere Verpackung, selbst überrascht vom Ausmaß ihres Unbehagens. Warum führen kleine Zuwendungen zu den größten Schuldgefühlen, überlegte sie, war es eine vollkommene, grenzenlose Zuwendung, die sie eigentlich forderte? Am liebsten hätte sie gesagt, nimm mich mit, statt mir Erinnerungen an deine Abwesenheit zu bringen, und Dina hatte sie gekränkt angeschaut, liebst du es nicht, Mama?
    Lieben, zu viel lieben, das wäre vielleicht die richtige Antwort gewesen, die nie ausgesprochen wurde, zu viel lieben oder zu wenig lieben, zu spät oder zu früh, und dann hatte sie den Stoff in die Packung zurückgelegt und in ihrem Schrank verstaut, und erst nach langer Zeit, als die Kränkung bereits tief versunken und es zu spät für eine Wiedergutmachung war, hat sie sich zornig mit diesen vergessenen Geschenken geschmückt, einem Pullover, einem Schal, einem Nachthemd mit grauem Blumenmuster, wer hat je eine graue Blume gesehen. Sie versucht, ihre Hand aus dem Ärmel zu befreien, der an ihr klebt, ihr Blick fällt überrascht auf die entblößte Brust, Brustwarzen wie graue Blumen, die ihre Köpfe über die flache Brust senken, graue, faltige, verwelkte Blumen. Ihre Finger streichen misstrauisch über die Hautfalten, und sie erinnert sich an ihren kleinen Enkel, sie haben
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