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Fuer den Rest des Lebens

Fuer den Rest des Lebens

Titel: Fuer den Rest des Lebens
Autoren: Zeruya Shalev
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die Entbehrung hat viele Gesichter, und inzwischen wandern ihre Blicke über die bunten Stühle, es sind so viele, und auf jedem wird ein verlassenes Kind sitzen, ein Kind, das niemandem gehört, und den geschmückten Baum betrachten, und plötzlich sieht sie auf einem der Stühle in einer Zimmerecke ein kleines Kind sitzen, still, mit einem Buch in der Hand. Ihre Augen weiten sich vor Erstaunen, sie greift nach Marinas Arm, ist er hier? Ist er es?, fragt sie, er ist dem Foto täuschend ähnlich, als würde er in der Zeit zurückgehen und kleiner werden, und Marina nickt gelassen, ja, seltsam, dass sie ihn früher hergebracht haben, warten Sie hier, gleich wird die Ärztin kommen, doch Dina geht schon mit schnellen Schritten auf ihn zu, wie auf ein Katzenjunges, das Angst vor Menschen hat.
    Er trägt das gestreifte Hemd, das sie vom Foto kennt, und eine senffarbene Hose, und seine Haare sind kurz geschnitten, fast bis auf die Kopfhaut, er sitzt mit gesenktem Kopf da, bewegt weder Hände noch Füße, und als sie sich neben ihn setzt, hebt er den Kopf und schaut sie ernst an, doch sofort senkt er den Blick und sie sieht, dass er die Lippen zusammenpresst, um nicht zu weinen, sein Körper ist steif vor Anstrengung, sein Gesicht wird rot, und sie flüstert, weine, Junge, weine. Sie hat sich schon so daran gewöhnt, wie er auf dem Foto aussieht, dass es ihr schwerfällt, ihn jetzt wirklich zu erfassen, er ist kleiner, als sie erwartet hat, auch heller, sein Blick ist vernünftig und distanziert, er wird sich nicht auf ihren Schoß oder auf ihre Knie setzen, er wird sich nicht in ihre ausgestreckten Arme schmiegen, er ist ein kleiner Mensch, verletzt und verängstigt. Das Buch rutscht ihm aus der Hand, er greift erschrocken danach, und sie streckt die Hand nach seiner Hand aus, wird er sie nehmen? Er tut es nicht, weicht aber auch nicht zurück vor der Berührung, Junge, flüstert sie, streichelt sanft über seine Hand, die das Buch hält, und nebenbei streichelt sie auch das Fell der Katze auf dem Umschlag. Wieder wird sein Gesicht rot und sieht alt aus, ein kindlicher Greis, erschreckend und ernst, ist das der Junge, auf den sie gewartet hat? Jetzt kann er sich nicht mehr beherrschen, er fängt an zu weinen, die Pflegerin in dem weißen Kittel eilt auf ihn zu, um das Weinen zu stoppen, aber Dina scheucht sie mit einer Handbewegung zurück, lassen Sie ihn, lassen Sie ihn, ich möchte mit ihm weinen, denn das ist der Junge, auch wenn ich nicht um ihn gebeten habe, denn das ist der Junge, auch wenn er mir nie gehören wird, ich werde ihm gehören, und während sie beide weinend auf kleinen Stühlen nebeneinandersitzen, vor dem Weihnachtsbaum, hört sie, wie die Tür aufgeht, und sie hebt den Blick zu der Ärztin, die hereinkommen wird, um ihr etwas über ihren Jungen zu erzählen, jedes Detail seines körperlichen Zustands, und um ihr zu versprechen, dass er gesund ist, obwohl sie nichts hören will, sie sieht ihn, das reicht, aber zu ihrer Überraschung ist es nicht die Ärztin, die kommt, sondern Gideon, er hat es eilig, er hat den dicken schwarzen Mantel noch nicht ausgezogen und hält ihr mit seiner behandschuhten Hand etwas hin. Was ist das, einen Moment lang versteht sie nicht, was soll sie mit seinem Handy anfangen? Sie will jetzt mit niemandem sprechen, deshalb hat sie ihres ausgemacht, und sie betrachtet seine ausgestreckte Hand, was tut er hier? Er wollte den Jungen doch nicht sehen, und jetzt steht er vor ihm, vorgebeugt und so ernst wie er, wie ähnlich sie sich sehen, und Gideon sagt, Dina, Avner will dich sprechen, Eisstückchen kleben an seinen Wimpern, sie fallen herab, als er spricht, und sie steht auf und geht schnell hinaus auf den Flur. Avner?, flüstert sie, ich habe den Jungen gesehen, er ist so klein, aus irgendeinem Grund findet sie keine anderen Worte, ihn zu beschreiben, und Avner sagt, hör zu, Dini, aber sie unterbricht ihn, ich kann ihn nicht hier lassen, Avner, er braucht mich.
    Dini, Mutter ist gestorben, sagt ihr Bruder, und sie schreit, warum? Und dann, wann? Und er sagt, gerade jetzt, vor ein paar Minuten, in ihrem Bett, sie scheint nicht gelitten zu haben, und sie seufzt, ach, Avner, das ist seltsam, und er fragt, wann kommt ihr zurück? Können wir die Beerdigung für übermorgen ansetzen? Wir werden sie im Kibbuz begraben, nicht wahr? Neben ihren Eltern.
    Ja, ich denke schon, sagt sie, es ist so seltsam, und er schlägt vor, lass uns später darüber sprechen, wir haben hier viel zu
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