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Fuer den Rest des Lebens

Fuer den Rest des Lebens

Titel: Fuer den Rest des Lebens
Autoren: Zeruya Shalev
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ein Wort mit dir zu wechseln, ich bin nicht daran interessiert, den Jungen zu sehen, und wenn wir zurückkehren, verlasse ich das Haus, und sie zog den Koffer zur Tür und sagte ruhig, danke für die Begleitung.
    Das sind nur Worte, fliegender Staub, es sind Taten, die zählen, versuchte sie sich zu beruhigen, als sie sich mit tausend Anweisungen und Ratschlägen und Verboten von ihrer Tochter verabschiedete. Es reicht, Mama, mach kein Theater, es sind nur drei Nächte, sagte Nizan, Schiri schläft bei mir, alles klappt, macht euch keine Sorgen und lasst es euch gut gehen, fügte sie mit einem süßen Lächeln hinzu, ohne mit einem Wort das Motiv der Reise zu erwähnen, als hätten sie eine gemeinsame Vergnügungsreise vor sich, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem sie nie weiter voneinander entfernt waren. Das ganze Flugzeug scheint erfüllt von der schmerzhaften Anspannung zwischen ihnen, der Boden ist bedeckt mit den Scherben ihrer zerbrochenen Sehnsüchte, die Luft ist voll mit dem Gift, das zwei Menschen produzieren, die sich gegenseitig immer wieder ihre widersprüchlichen Wünsche abschlagen, und sie betrachtet erstaunt die Stewardess, die so mühelos durch den Gang geht, die Passagiere, die um sie herum sitzen, einer ist in ein Buch vertieft, ein anderer beschäftigt sich mit seinem Laptop, keiner krümmt sich vergiftet zusammen, nur ihre Hände sind nass und ihr Atem geht schwer, und sie drückt den schmerzenden Kopf an das Fenster, sieht die Wolken vorbeiziehen, und plötzlich ist es ihr egal, dass er kein Wort mit ihr sprechen wird, bis sie in Moskau landen, auch nicht in den Stunden, die sie auf dem Flughafen auf ihren Anschlussflug nach Sibirien warten müssen, und wenn sie schließlich in der grauen Stadt landen, in der der Junge geboren ist, und von dort zum Kinderheim gebracht werden, wird er auch kein Wort zu ihr sagen, als spräche er ihre Sprache ebenso wenig wie all die anderen Menschen um sie herum, und vielleicht ist das besser so, in diesen Stunden ist sein Schweigen angenehm, banale Gespräche bringen nichts, und über die wichtigen Dinge, die zwischen ihnen stehen, haben sie schon genug gesprochen und waren sich kein bisschen nähergekommen.
    Das ist die Stunde der Taten, das ist die Stunde, in der das Schicksal spricht und wir schweigen, in der wir die schwindelerregende Weite still in uns aufsaugen, den unbegreiflichen Übergang von einem Land ins andere. Sogar auf dem Flughafen von Moskau, der nicht anders aussieht als alle Flughäfen, die sie kennt, ist die Veränderung spürbar, der weiche Klang der fremden Sprache, die vielfältigen Gesichter, die Schönheit der Frauen, die leichtfüßig auf hohen Absätzen vorbeigehen, die wogenden Pelzmäntel, ist eine von ihnen seine Mutter, das Mädchen, das ihn geboren hat? Wieder nimmt sie die Dokumente aus der Tasche, prüft das Alter der Mutter, und erst jetzt, da sie sich freier fühlt, um die Details wahrzunehmen, stellt sie fest, dass diese junge Frau heute noch nicht einmal neunzehn ist, vor zwei Jahren, als sie den Jungen bekam, war sie so alt wie Nizan heute, und sie nimmt einen schmerzhaften Atemzug, sieht ihre Tochter vor sich. Mach dir keine Sorgen, Kind, möchte sie jedem jungen Mädchen zuflüstern, das an ihr vorbeigeht, vermutlich konntest du nicht anders handeln.
    Gegen Abend landet das Flugzeug in einer Wüste aus grauem Eis und beim Aussteigen schlägt ihnen die schreckliche Kälte entgegen, und sie erinnert sich an eine alte Geschichte, ein Stein trifft dein Herz, was wirst du tun, Kinder rutschen auf Schlitten vorbei und ihr Lachen gefriert plötzlich, Nikolai, Sergej, Andrej, Juri, man muss ein Stück Stoff auf die Lippen legen, sonst stirbt man! Der Kutscher und sein Pferd warten verzweifelt auf den Morgen, ist der Morgen nahe? Ach, die Uhr schlägt Mitternacht, sie entscheidet über ihr Schicksal, sie werden nicht standhalten, hungrige Soldaten stapfen durch den Schnee, mit zerrissenen Stiefeln, sie keuchen wie verwaiste Bären, dabei sind sie alle einmal Kinder gewesen, Nikolaj, Sergej, Andrej, Juri. Die Kälte verhöhnt den weißen Mantel, den ihr Bruder ihr gebracht hat, verhöhnt die Handschuhe, die Mütze, wie konnte hier auch nur eine Handvoll von Millionen Emigranten und Deportierten überleben?, diese Kälte bringt einen doch innerhalb weniger Stunden um. Sie betrachtet die niedrige, düstere Landschaft, wie viel Leid hat diese riesige Wüste gesehen, wie viel Grausamkeit, Frauen wurden von ihren Kindern
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