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Fuer den Rest des Lebens

Fuer den Rest des Lebens

Titel: Fuer den Rest des Lebens
Autoren: Zeruya Shalev
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wir fahren? Der Druck der Organisation weckt Misstrauen und Angst, an was leidet der Junge, an eingebildeten oder echten Krankheiten, ist er wirklich krank? Wie krank ist er? Warum haben sich die anderen geweigert, ihn zu nehmen? Die fehlenden Unterlagen, die verschleppten Übersetzungen, soll sie schon gleich die Tickets bestellen, ohne zu wissen, ob sie überhaupt fährt, ob er fährt? Als sie morgens aufwachte, war er nicht mehr da, auch Nizan nicht, beide sind unabhängig und leise verschwunden, sie verhalten sich so, als wäre sie nicht nach Hause zurückgekehrt, nur der Junge wartet geduldig auf sie, er betrachtet sie mit stechenden Augen, wird sie ihn lieben können? Und wenn nicht?
    Er richtet den Blick auf sie, er entfernt sie von ihrem Traum, sie muss sich wieder daran erinnern, was sie in der Nacht erfahren hat, die Kunst der Liebe, sie wird lernen, ihn zu lieben, wie es Männer und Frauen im Lauf der Generationen gelernt haben, jene zu lieben, die für sie vorgesehen waren, sie hat keine Wahl. Er ist schon dort, er wohnt in ihrem Computer, er hat kein anderes Zuhause. In ihrem Computer ändert er sich, entwickelt sich, im Morgenlicht sind seine Augen heller, zugleich aber düsterer, noch nie hat sie ein so ernstes Kind gesehen, als habe man ein altes, enttäuschtes Gesicht auf den Körper eines Kindes gesetzt.
    Wer bist du? Deinen Namen hat man aus irgendeinem Grund nicht transkribiert, er erscheint nur auf Russisch, du bist vor zwei Jahren auf die Welt gekommen, in drei Tagen hast du Geburtstag, genau an dem Tag, an dem wir dich zum ersten Mal sehen sollen. Sind wir dein Geschenk? Bekommst du einen Vater und eine Mutter, genauer gesagt, nur eine Mutter, und eine große Schwester und einen Kater, das ist nicht besonders viel, aber auch nicht wenig, ich habe gehofft, es möge anders sein, aber das ist kein Grund, aufzugeben, lass dich treiben, wie Nizan sagt, auch wenn der Fluss zugefroren ist und auch wenn du untergehen könntest, alles ist besser als ein Rückzug. Tanja von der Organisation ruft wieder an, ich warte auf eure endgültige Antwort, ihr müsst in drei Tagen im Adoptionszentrum erscheinen, und von dort fahrt ihr dann zum Kinderheim, um den Jungen zu sehen, und Dina ertappt sich dabei, wie sie versucht, Zeit zu gewinnen, es ist schwer für uns, von einem Tag auf den anderen, wir brauchen ein paar Tage, um eine Regelung für unsere Tochter zu treffen und um freizubekommen.
    Das ist Russland, Dina, das ist nicht Israel, schimpft Tanja, bei ihnen ist ein Tag ein Tag und eine Stunde ist eine Stunde, ihr müsst morgen Abend von hier abreisen, um rechtzeitig hinzukommen, und sie erschrickt, morgen Abend? Wir haben noch nicht einmal warme Mäntel, und sie stellt sich vor, wie sie aus dem Flugzeug steigen und auf der Stelle zu Eis erstarren, und wer kümmert sich um Nizan, und wer weiß, ob Gideon überhaupt mitfliegt, ob er das Ticket benutzt, das sie gleich für ihn bestellen wird. Tanja versucht sie zu beruhigen, es ist eine kurze Reise, wenn ihr hier seid, werdet ihr den Jungen ein paarmal sehen und dann entscheidet ihr euch, wenn ihr euch für ihn entscheidet, kommt ihr etwa einen Monat später noch einmal zum Gerichtstermin, ich habe euch die ganze Prozedur doch erklärt.
    Ja, natürlich, sagt Dina, wer hätte damals gedacht, dass es so schnell gehen würde, in ihrer Vorstellung hat sie noch genug Zeit, um Gideon zu überzeugen, in ihrer Vorstellung sitzen sie zusammen vor dem Foto eines Jungen, der ihr Herz mit seinem süßen, flehenden und hoffnungsvollen Lächeln erobert, in ihrer Vorstellung bereiten sie sich darauf vor, im Sommer zu fahren, Gideon ist begeistert von den Landschaften, die auf seine Kamera warten, vom Abenteuer, das ihnen bevorsteht, und sie von ihrer Liebe, die aufblüht wie die Liebe zu dem neuen Kind, aber so ist es nicht passiert, und ihr bleibt noch nicht einmal genug Zeit, es zu bedauern. Sie wird Tickets kaufen und den Koffer für zwei Personen packen, und wenn er sich weigert, mitzukommen, wird sie eben allein fahren, ohne ihn, sie hat keine Wahl, wenn sie an sich selbst glaubt, wird sie auch an den Jungen glauben, wenn sie an den Jungen glaubt, kann sich ihr nichts in den Weg stellen, und wieder geht sie zum Computer, wer bist du, du kleiner Mensch? Misstrauisch, erloschen, dressiert, und trotzdem fest, langlebig, abgehärtet, was ist dir seit deiner Geburt geschehen, was erwartet dich, was erwartet uns gemeinsam? Verwirrt legt sie den Kopf auf die Tastatur, wieder
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