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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
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wundervolle Luftschlösser baute. So war etwa der Bretterverschlag, in dem sie hausten, nur deshalb so löchrig, damit, wie der Großvater dem Kleinen glaubhaft erklärte, ja damit das goldene Glück durchs Dach auch reichlich auf sie niederrieseln könne.
    Je älter Luca wurde, umso mehr liebte er seinen Großvater. Und umso mehr schmerzten die warmen Weisheiten des altersschwachen Mannes, die, wie Luca wusste, nur noch ihm galten. Es waren Geschenke zum Abschied. Und die wiegen besonders schwer. Luca schmerzte es auch mitanzusehen, wie höchste Weisheiten mit niedrigsten Lebensumständen einhergehen. Es schmerzte, dass Tugendhaftigkeit und Fleiß nicht satt machten. Das war schlimmer als der Hunger selbst.
    Als die Arthritis die Finger des Großvaters immer mehr anschwellen ließ und das Flechten der Körbe schließlich zur unerträglichen Tortur wurde, beschloss der Alte Mundharmonika spielen zu lernen. Dazu seien keine flinken Finger nötig und das Musizieren würde sicher auch nicht weniger Geld einbringen als das Körbeflechten. Dass er keine Mundharmonika besaß und darüber hinaus noch nie einen Ton auf nur irgendeinem Instrument gespielt hatte, schien Lucas Großvater nicht zu verunsichern. »Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte er feierlich. »Und was ein Jenischer nicht kann, das kann er lernen.« Zur Bekräftigung für den Kleinen – und sich selbst – legte er zärtlich seine schwere Hand auf die Schulter des Enkelkinds. Dann lächelte er Luca an und sagte: »Weißt du, wir Zigeuner finden immer einen Weg. Wir sind wie das Wasser.«
    Drei Wochen später verfolgte der Großvater einen seiner Träume. Er verfolgte ihn ganz intensiv, und weil es ein so schöner Traum war, wollte er ihn diesmal, dieses eine Mal, nicht wieder loslassen. Und so entschied sich Lucas Großvater, bis in alle Ewigkeit weiter zu schlafen.
    Am Abend zuvor hatte er auf einer verrosteten Mundharmonika zum ersten Mal fehlerfrei eine einfache Melodie gespielt.
     
    Luca Resulatti hatte sich schon Monate vor dem Tod seines Großvaters entschieden. Er wusste, was er tun würde, an dem Tag, an dem er zum ersten Mal in seinem Leben niemanden, wirklich niemanden mehr haben würde. Sobald es so weit wäre, würde er aufbrechen. Er würde sich auf die Suche machen nach dem anderen Teil seiner Sippschaft. Auf die Suche nach seinem Onkel, dem Herrn über Elefanten, Bären und Löwen. Nach seinem Onkel, von dem sein Großvater immer erzählt hatte, er sei einer der größten Zirkusdirektoren, die Italien je erlebt habe. Jener Onkel, den er selbst nie zu Gesicht bekommen hatte und von dem es hieß, dass er sich in der Umgebung nicht blicken lassen könne, wegen Geschichten, die lange her wären und von denen man besser nichts wissen sollte. »Zu deinem eigenen Vorteil«, wie Lucas Großvater stets betonte und jedem darauf folgenden Drängen seines Enkels widerstand, was Seltenheitswert hatte.
     
    Der Tag, den Lucas Großvater durch seinen Tod zum Abreisetag für seinen Enkel machte, schien der denkbar ungünstigste für den Beginn einer langen Wanderung. Der Schnee lag kniehoch, was seit Jahren nicht mehr der Fall gewesen war, und eisiger Wind peitschte übers Land. Wie schon sein Großvater konnte Luca alles, was er besaß, auf seinem Rücken tragen. Um seine Füße hatte er mit Bast Gamaschen aus Lederresten gebunden, um seinen Körper – zusätzlich zur Kleidung – Zweige. Dazwischen hatte er Moos gestopft. Dennoch klapperten seine Zähne, als er nach stundenlanger Wanderung zum ersten Mal bei einem Bauern anklopfte, und sein Körper zitterte vor Kälte. Als niemand öffnete, klopfte er nochmals, diesmal fester. Seine Knöchel spürte er nicht mehr. Dann trommelte er mit der Faust an die schwere Holztür. Als sie sich endlich öffnete, grinste Luca Resulatti breit und bemühte sich, fröhlich zu erscheinen. Kurz überlegte er, ob man ihm ansah, dass er seine Mimik nicht mehr unter Kontrolle hatte, weil er vor Kälte nicht nur in seinen Händen und Füßen, sondern auch in seinem Gesicht kein Gefühl mehr hatte. Er grinste und sprang fidel hin und her, weil er von seinem Großvater gelernt hatte, dass die Menschen mit Leid nichts zu tun haben wollen, dass sie an Problemen vorbeisehen, und dass sie die Not anderer nur interessiert, wenn sie ihr Mitleid von der sicheren Ferne aus zeigen können; freilich nicht durch Taten, sondern nur sich selbst und anderen Gaffern, durch Händeringen, Seufzen, womöglich die eine oder andere
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