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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
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Ältesten erzählt wurden. Sie war die Einzige, die nicht Hand anlegte, und dennoch durfte sie am nächsten zum Ofen sitzen. Ihr Zutun war nämlich nicht minder wichtig für das Gelingen der Arbeiten, und das war allen bewusst. Um aber ganz sicher zu gehen, erwähnte die Alte eine ihrer Weisheiten besonders häufig: »Alles Gute, was man tut, ist seines Lohnes wert«, beendete sie viele ihrer Geschichten und beobachtete mit Wohlgefallen das stumme Nicken der anderen.
    Als Lilli und ihr Mann samt den Kindern und dem Ungeborenen aufgebrochen waren, war ihr Karren so hoch mit Hausrat und anderen Handelswaren beladen, dass zu fürchten stand, der klapprige Wagen könnte beim erstbesten Windstoß oder beim nächsten Schlagloch umkippen. Nahrung hingegen führten sie kaum bei sich. Für nur drei Tage wurde Proviant geladen. Mehr sollte schließlich und endlich auf der Reise erbettelt oder vorteilhaft gegen Ware eingetauscht werden.
    Beim Abschied von den anderen, die in den nächsten Monaten die kargen Felder zu bewirtschaften haben würden, flossen Tränen. Ein Wiedersehen würde es erst in gut einem halben Jahr geben, dann, wenn die Tage fürs Herumziehen zu kurz und zu kalt würden, dann, wenn bald die Raunächte übers Land kämen, knapp vor dem nächsten Winter – also noch lange, lange nicht. Denn dieser Winter war gerade erst dabei, sich widerwillig zu verabschieden, mit den letzten Schneeresten, die an den Wegböschungen der schwachen Sonne trotzten.
    Bevor der Wagen losrollte, umarmten einander alle, und die Älteste steckte Lillis Mann beim Abschied einen alten, zusammengeschrumpelten Erdapfel in die Manteltasche. Worte verlor sie darüber keine.
     
    * * *
     
    Die Herkunft der Jenischen ist nicht restlos geklärt. Vermutet wird, dass sie, anders als andere Zigeunerstämme, etwa Roma und Sinti, europäischen, womöglich keltischen, Ursprungs sind. Zudem stießen im Laufe der Jahrhunderte Menschen zum Volk der Jenischen, die wegen Hunger, Armut, Krieg, Massenkrankheiten oder Realteilung zur Wanderschaft gezwungen waren. Im Mittelalter sah sich etwa ein Fünftel der Menschen genötigt umherzuziehen, im 17. und 18. Jahrhundert gar ein Viertel. Noch im 19. Jahrhundert waren es etwa zehn Prozent. Bei den Jenischen unter ihnen wurde aus der Not des Reisens eine Tugend, sowie ureigenste Tradition und Lebensform. Ihr Brot verdienten sich die Jenischen als Handwerker, Kesselschmiede, Pfannenflicker, Korbflechter und Besenbinder, Bettler, Hausierer mit Waren aller Art, als Schausteller, Wahrsager, Kräuterfrauen, Kartenleger, Seiltänzer, Bärentreiber, Vogelhändler, Zirkusbetreiber, Drehorgelspieler und mit vielen anderen Tätigkeiten.
    Heute gibt es in Europa Schätzungen zufolge zwischen 250000 und 1,5 Millionen Jenische. Eine Gruppe davon sind zum Beispiel die Tinkers in Irland, Schottland und England. Ihre Sprache (Shelta) ist die reinste Form des noch gesprochenen Keltischen. Jenische leben aber unter anderem auch in Frankreich, Spanien, Italien, der Schweiz, Norwegen, Schweden, Finnland, Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und in Österreich.
    Die Jenischen haben eine eigene Sprache, mit der sie sich über alle Landesgrenzen hinweg untereinander verständigen können. Bedeutung und Herkunft des Wortes »Jenisch« sind strittig. Die Wortwurzel könnte im Romanes liegen und die Sprache der Wissenden und Eingeweihten bezeichnen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Jenisch eine Mischung aus Keltisch, Romanes, Jiddisch sowie regional gefärbten Wortkreationen. Jenisch hat keine eigene Grammatik, allerdings einen großen Wortschatz. Die Fahrenden verwendeten und verwenden Jenisch als Geheim- und Berufssprache.
     
    * * *
     
    Die Götter verließen deine Ahnen keinen einzigen Tag. Während ihrer ganzen langen Reise nicht. Ab dem Tag, an dem die Familie von Amaliendorf aufgebrochen war, stand sie unter ihrer Obhut. Und weißt du warum, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weil ihnen die Älteste der Sippe einen Glückserdapfel mitgegeben hatte, so wie es noch heute Brauch ist, hier heroben, bei uns im Waldviertel. Den Erdapfel hatte sie im Sommer ausgegraben. Und ab diesem Moment, ab dem Augenblick, an dem dieser Erdapfel dem sonnengetrockneten Acker entnommen worden war und die groben Hände der Alten ihn zum ersten Mal befühlt hatten, bekam er die Aufgabe, der Familie beizustehen. Alleine mit diesem Gedanken fütterte die Alte den Erdapfel. Immer wenn sie ihn ansah, ihn zwischen ihren Händen rieb und mit ihrem
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