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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde
Autoren: Thomas Sautner
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Vorfahren erhalten bleiben sollte, war der Hunger. Er sollte mit einziehen in das kleine Häuschen, das sie zu bauen hatten. Der Hunger, da waren sie sicher, würde bei ihnen bleiben, als steter Begleiter. Denn der steinige Boden, das war bald gewiss, würde zu wenig abgeben, würde geizig sein beim Verteilen seiner Früchte. Zudem waren hier heroben, im nördlichsten Zipfel des Waldviertels, die Sommer allzu kurz, die Winter hingegen hart und lang.
    Das war auch der Grund, warum sich dein Urahn eines Abends nach der Arbeit davonmachte und nicht wie die anderen Männer zu seiner Familie zurückkehrte, in die notdürftig errichtete Holzbaracke, wo alle Frauen und Kinder warteten, gleichsam lebendes Pfand des Grafen für die Rückkehr der Männer. Dein Vorfahre glitt unbemerkt vom schmalen Pfad ab, den er und die anderen Männer in den letzten Monaten geschlagen hatten, tauchte ein in den nach Sommer duftenden Jungwald und wollte nach einem Flecken Erde Ausschau halten, der satter war und üppiger als die vom Grafen zugeteilten Parzellen.
    Nach Stunden des Herumirrens im Wald beschloss er umzukehren. Er konnte sich nur noch am Schein des Mondes orientieren, zudem schmerzte sein Magen – teils weil er beinahe leer war, teils wegen der Beeren und Schwammerln, die er im Heißhunger blindlings verschlungen hatte, und die nun in seiner Magengrube ihre Gaukeleien trieben. Die wilden Früchte des Waldes waren es wohl auch, die den Geist deines Urahns verrückt hatten. »Was irrst du hier herum?«, fragte er sich und gab sich im Stillen die verzweifelte Antwort: »Ich will doch nur einen Flecken finden, der windgeschützt ist und dessen Erde sich bereitwillig auftut, um zu nehmen, und die sich auch wieder bereitwillig auftut, um zu geben.« Kaum hatte er diese Hoffnung zu Ende gedacht, eröffnete sich vor ihm eine Lichtung. Der Wald zeichnete ihre traumhaften Umrisse und der Mond warf sanftes Licht auf üppiges Geflecht, auf Kräuter und auf eine Wiese mit sattem, frischen Gras. Dein Urahn jauchzte vor Freude und rannte los. Er schrie »Danke! Danke!« und warf seine Hände zum Himmel. Nach wenigen Metern versank er im Moor.
    Als er aufgehört hatte zu schreien und das Moor begann, ihm die Luft zu rauben, vernahm er eine tiefe, ruhige Stimme: »Du hast mich gesucht und nun hast du mich gefunden«, sagte der Moorgeist zu ihm. »Du wolltest Erde, die nimmt, und Erde, die gibt. Nun nehme ich. Und ich verspreche dir, auch wieder zu geben. Ich werde deine Kinder und deine Frau wärmen und ihnen Nahrung sein.« Nach diesen Worten nahm der Moorgeist deinem Vorfahren die Angst und zog ihn zu sich.
     
    Schon am Tag darauf stellte sich heraus, dass der Moorgeist Wort gehalten hatte. Denn unweit der Stelle, an der dein Vorfahre vom Moor verschluckt worden war, ließ der Graf fortan Torf stechen. Torf, mit dem die Öfen der Siedlung befeuert wurden und dessen Ertrag dank des gräflichen Zubrots ausreichte, Frau und Kinder deines Urahns zu ernähren.
     
    Ich weiß, du kennst diese Geschichte schon, mein kleiner, schlauer Fuchs. Unzählige Male habe ich sie dir erzählt, so wie die vielen anderen Geschichten auch. Aber du weißt, warum ich all das nun noch einmal wiederhole, nicht wahr? Du weißt, warum ich die alten und uralten Geschichten unserer Vorväter noch einmal hervorkrame aus meinem Schädel. Freilich weißt du es, mein kleiner, schlauer Fuchs: Es wird nicht mehr lange sein, dann werde ich diese Welt verlassen, um in eine andere zu gehen. Ich spüre schon, wie ich der Erde zuwachse. Tag für Tag ein Stückchen näher. Bald werde ich sie nähren, wie sie mich ein Leben lang genährt hat. Das ist der Lauf der Dinge.
    Du bist der Letzte und Jüngste unserer Sippe. Nur dir erzähle ich all die Geschichten und Weisheiten. Nur dir vertraue ich all mein Wissen an, wie es Sitte ist bei uns, seit jeher: vom Ältesten zum Jüngsten. Es ist ein jahrhundertealtes Wissen, ein Wissen, das von unseren Ahnen und Urahnen gesammelt wurde, und das es zu hüten gilt wie einen sehr wertvollen Schatz. Und ich sehe an deinen Augen, dass dieser Schatz gut bei dir aufgehoben ist, mein kleiner, schlauer Fuchs.

2.
    Lillis Wehen wurden immer stärker, doch das ließ sie die beiden Gendarmen nicht merken. Sie hatte die Beine unter ihrem langen, schweren Rock versteckt, hockte am staubigen Boden, den Rücken ans Wagenrad gelehnt, und sah in zwei pausbäckige Gesichter, die von Fusel und Schweinefett aufgedunsen waren. Als der kleinere der beiden zu reden
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