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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren
Autoren: Jonas Lüscher
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viel denn so ein Kamel wert sei, wollte Preising wissen. Elfhundert, vielleicht zwölfhundert Franken. Und das mal dreizehn.
    Preising überschlug. Vierzehntausend, fünfzehntausend Franken. Davon sollte also die Existenz dieses Mannes abhängen, die Existenz einer ganzen Familie. Er war ganz außer sich.
    «Da saß nun dieser Mann vor mir im Staub und weinte um seine Kamele, um sein Leben, um fünfzehntausend Franken. Fünfzehntausend, das war die Zahl, die mir Prodanovic einmal stolz am Rande einer Bilanzpressekonferenz präsentierte. Fünfzehntausend Franken, so viel verdiene ich an der Firma. Täglich. Nur durch meine Firmenanteile. Ohne mein Geschäftsführergehalt, ohne meine anderen Beteiligungen, meine Immobilien und was sonst noch alles Geld abwirft. Fünfzehntausend Franken am Tag, und dieser Mann hier war ruiniert deswegen. Was hielt mich davon ab auszusteigen, zu ihm hinzugehen und ihm dieses Geld zu geben, damit er sich neue Kamele kaufte? Was hielt mich davon ab?»
    Ich hatte keine Ahnung, was ihn davon abhielt, auszusteigen und dem Mann dieses Geld zu geben, aber ich war mir sicher, Er würde mir gleich seine Gründe nennen. Preising fand immer Gründe, nicht zu handeln.
    «Zwei Dinge», erklärte er sich, «Prodanovic und Saida. Würde meine Gastgeberin eine solche Geste meinerseits nicht als Affront auffassen? Als unangemessene Einmischung? Hatte nicht gerade jener Mann, dem ich meine Großzügigkeit zukommen lassen wollte, mit seiner Unvorsichtigkeit ihr eine Menge Unannehmlichkeiten bereitet? Und was würde das für einen Eindruck hinterlassen, wenn ich ihn dafür nun auch noch belohnen würde? Das war eine diffizile Situation, die gut bedacht werden wollte. Und dann erinnerte ich mich an die Charity-Ausschusssitzungen, die Prodanovic leitete, bei denen wir jedes Jahr ein Prozent unseres Gewinns für Hilfsprojekte und Kulturförderung verteilen. Prodanovic weigerte sich Jahr für Jahr, auch nur einen Franken nach Afrika fließen zu lassen. Dieser Kontinent ertrinkt in unserer Fürsorge. Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder. Dieser Kontinent muss sich an seinen eigenen Stiefelhaken aus dem Sumpf ziehen. Ich glaubte allerdings, mich erinnern zu können, dass Prodanovic damit vor allem das Afrika südlich der Sahara meinte. Doch galt das nicht auch für Tunesien? Würde ich diesen Mann mit meinem Geld nicht lähmen? Ihm die Möglichkeit rauben, sich selbst aus seinem Elend zu befreien und mit breiter Brust, aus eigener Kraft sich eine Zukunft zu schaffen? Es genügte jedoch ein Blick auf die bebenden Schultern dieses Mannes, um zu begreifen, dass in diesem Fall Hilfe geboten war. Prodanovic hin oder her. Auch auf die Gefahr hin, meine Gastgeberin zu düpieren. Es kostete mich so wenig, und ich war in der Lage, hier wirklich einen Unterschied zu machen. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Selbstverständlich hatte ich keine fünfzehntausend Franken im Portemonnaie, und schon gar keine sechsundzwanzigtausend Tunesische Dinar. Sollte ich ihn bitten, mir seine Kontonummer aufzuschreiben, damit ich ihm den Betrag überweisen konnte? Aber hatte dieser Mann überhaupt ein Bankkonto? Oder sollte ich einfach mit ihm zum nächsten Kamelmarkt fahren und ihm dreizehn neue Kamele kaufen? Aber würde ich auf einem tunesischen Kamelmarkt mit Kreditkarte bezahlen können?»
    Preisings Ringen wurde von Saida unterbrochen, die sich neben ihn setzte, sich in knappen Worten für die Unterbrechung entschuldigte und den Befehl zur Weiterfahrt erteilte. In getrübter Stimmung ließ er sich von dem gestrandeten Reisebus, den toten Kamelen und ihrem unglücklichen Besitzer, dessen Schicksal ihn noch sehr bewegte, fortchauffieren. Bald aber tauchten die ausgedehnten Dattelplantagen der Oase Tschub vor ihm auf. Der Wüstenwind ließ die dunkelgrünen Wipfel erzittern, und aus der Ferne sah es aus, als kräuselten sich die Wellen auf der Oberfläche eines kühlen Sees.

II
    Das Thousand and One Night Resort in der Oase Tschub war einer temporären Berbersiedlung nachempfunden oder vielmehr dem, was sich der von der Marktforschung errechnete typische Tunesientourist der Premiumklasse unter einer typischen Berbersiedlung vorstellte, wenn er denn überhaupt eine Vorstellung hatte und sich nicht sowieso, unvoreingenommen wie ein weißes Blatt Papier, dankbar wie ein leeres Gefäß, von den Ideen einer weltberühmten Resortdesignerin aus Magdeburg überzeugen ließ. Stabile weiße Zelte waren großzügig im lichten
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