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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren
Autoren: Jonas Lüscher
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verlieren. Es war bestimmt auch diesen erschwerenden Umständen geschuldet, dass sie ihre Gesichtszüge für einen kurzen Augenblick entgleiten ließ und sich einen unverkennbaren Ausdruck der Enttäuschung erlaubte, als sie mich erblickte, denn sie hatte, wie ich selbst auch, diesen Platz seiner Einsamkeit wegen gewählt. Jedenfalls fing sie sich schnell wieder, grüßte aufs Höflichste, stellte ihren Krug und ihr Glas auf das kleine Beistelltischchen und nahm mit einem zurückhaltenden ‹may I?›, ohne meine Antwort abzuwarten, am gegenüberliegenden Ende der Matratze Platz. Sie schlug ihre Beine übereinander und ihr Buch auf und vertiefte sich, ohne mich weiter zu beachten, in ihre Lektüre. Beide taten wir sehr konzentriert, denn es war offensichtlich, dass wir beide nicht zu jenen Menschen gehörten, die es gewohnt sind, mit Fremden eine Matratze zu teilen.
    Als ich jedoch kurz mein Buch zur Seite legte, um meine Sonnenbrille zu putzen, ertappte ich sie dabei, wie sie einen Seitenblick auf meine Lektüre warf. ‹We seem to have the same interests›, sagte sie und hielt den Umschlag ihres Buches hoch. Tatsächlich lasen wir beide Mahmoud Messadis Die Genese des Vergessens , sie in englischer Übersetzung, ich in deutscher. Meine Buchhändlerin hatte es mir verkauft, als sie von meiner Tunesienreise erfuhr, es sei, so sagte sie, das wichtigste Werk der modernen tunesischen, ja vielleicht sogar der modernen arabischen Literatur.
    Bücher sind ein wundervoller Gesprächseinstieg. Wir äußerten ganz unverfänglich unsere jeweiligen Meinungen über das bereits Gelesene, sie war begeistert, ich mochte mich noch nicht so richtig festlegen, aber sie war auch bereits ein gutes Stück weiter als ich. Dann setzte sie ihre dunkle Brille ab und zeigte mir ein paar Augen von bemerkenswertem Blau. Es war, das darf ich so sagen, das einzige Bemerkenswerte an ihrer Erscheinung. Sie war von mittlerer Größe und unauffälliger Statur. In den Hüften nicht mehr mädchenhaft schlank, die Oberarme nicht mehr ganz straff, trug sie einen jener teuer aussehenden Haarschnitte, die sich gebildete Nordeuropäerinnen zulegen, wenn sie sich für langes Haar zu alt fühlen. Geschminkt war sie kaum, die Kleidung zeugte von Geschmack und der Abwesenheit jeglicher Eitelkeit. Baumwolle, Leinen, vermutlich aus umweltschonender Herstellung. ‹Philippa Greyling›, stellte sie sich vor, reichte mir ihre Hand und bat mich, sie Pippa zu nennen.»
    Es war also jene englische Lehrerin Pippa Greyling, die Preising in die Gästestruktur des Resorts einweihte. Ein Vorgang, den er mit einem kurzen Zitat zur Kristallisation der Gesellschaft in jenem kleinen deutschen Badeort, in dem die Schtscherbazkis zur Kur verweilt hatten, kommentierte.
    Was Pippa und Preising verband, war der Umstand, dass sie sich beide nicht aus freien Stücken für das Thousand and One Night entschieden hatten. Sie war hier, weil ihr Sohn beschlossen hatte, seine Hochzeit in einem tunesischen Oasenresort zu feiern, und zu diesem Zweck siebzig Freunde und Familienmitglieder hatte einfliegen lassen. Es war, so berichtete Pippa, ihre Irritation nicht verbergend, das, was man sich als junges, in der City tätiges Paar unter einer standesgemäßen Hochzeit vorstellte. Ihr Sohn Marc und seine frisch angetraute Frau Kelly bildeten also das Kernstück jener großen Gruppe, die Preising bereits am Pool aufgefallen war. Junge Leute in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern. Laut und selbstsicher. Schlank und durchtrainiert. Die Männer trugen sandfarbene Chinos, Polohemden und Mokassins, die Frauen Tanktops und enge Shorts, aus denen braun gebrannte, seidige Beine ragten. Manikürte zarte Füße steckten in Flipflops. Wer sich ins Wasser wagte, trug eine jener Badehosen, wie man sie von Fotos kannte, die den jungen JFK am Strand von Martha’s Vineyard zeigten, oder knappe Bikinis, die die flachen Bäuche gut zur Geltung brachten und die Intimrasur rechtfertigten. Selbst nahezu nackt wirkten sie wie in Uniform. Preising stieß auf dem ganzen Areal auf kleine Grüppchen von ihnen. Sie standen Witze reißend an einer der Bars, sie verschwanden, sich ungestüm küssend und sich die Hände gegenseitig unter die Bünde ihrer engen Shorts steckend, in ihren klimatisierten Zelten, sie erteilten dem Personal selbstsicher Anweisungen, sie wanderten fluchend durch die Palmenhaine auf der Suche nach besserem Empfang für ihre Blackberrys, denn ihre Gehälter rechtfertigten, dass man von
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