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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren
Autoren: Jonas Lüscher
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hatte sich rings um die leblosen Leiber versammelt. Die Stimmung war mehr als nur angespannt. Ein paar Soldaten im Tarnfleck mit grünen Baretts versuchten, fünf oder sechs aufgebrachte Beduinen, von denen einige ebenfalls Waffen trugen, zu beruhigen. Hinter den Soldaten, schwitzend und mit einer klaffenden Platzwunde auf der Stirn, stand im hellblauen Kurzarmhemd der Fahrer des Reisebusses, der seinerseits lauthals die Kameltreiber beschimpfte. Hinter den spiegelnden Scheiben des Reisebusses ließen sich schemenhaft die Gesichter zahlreicher Touristen ausmachen, die teils blass und mit offenem Mund auf die Szenerie starrten, teils ihre Gesichter an die Scheibe drängten und möglichst viel des Schlamassels auf ihre Speicherkarten zu bannen versuchten, damit sich die Geschichte daheim illustrieren ließ.»
    Inzwischen waren wir mit unserem Spaziergang an der Außenmauer angelangt und wandten uns nach links, auf einen breiten Kiesweg, der dem Verlauf der gelben Einfriedung folgte. In Preising regte sich nun etwas Leben. Er gestikulierte lebhaft und legte gelegentlich ein, zwei schnelle, tänzelnde Schritte ein. «Saida stieß zwei Flüche aus, die man», fuhr Preising fort, «von ihr so nicht erwartet hätte. Einen in Englisch, einen in Französisch, beide brachten, wörtlich übersetzt, dasselbe zum Ausdruck. Dann stieg sie aus. Ihr Assistent und ich taten es ihr nach.»
    Preising und seine Begleiter standen hinter den geöffneten Türen. Eine glühende Hitze bemächtigte sich ihrer Köpfe. Über den toten Kamelen und dem heißen Asphalt waberte die Luft, als bildeten sich in ihrer Viskosität die Schallwellen ab. Eine flimmernde Visualisierung der aufgeregten Stimmen und des enervierenden Klagelauts eines verendenden Kamels. Saida bat ihn, beim Wagen zu bleiben, dann schritt sie, ihren Mitarbeiter an der Seite, zielstrebig auf die tumultuöse Szene zu. Krachend durchdrang ein einzelner Schuss die vielstimmige Unstimmigkeit. Preising sah, wie Saida von ihrem Mitarbeiter zu Boden gerissen wurde, und sprang selbst, so flink er konnte, die Türe hinter sich zuschlagend, auf das kühle Leder der Rückbank. Gedämpft hörte man die entsetzten Aufschreie aus dem Reisebus, die lauten Rufe der Soldaten. Nur die Schreie des sterbenden Kamels waren verstummt. Alle Gewehre waren auf den einen Mann gerichtet, der im Rücken der anderen dem klagenden Kamel mit seinem Karabiner den Gnadenschuss zwischen die aufgerissenen Augen gesetzt hatte.
    Saida stand schnell wieder auf, klopfte sich den Staub vom eleganten Hosenanzug und schaltete sich in die Diskussion ein. Preising blieb im Wagen sitzen und verfolgte den Gang der Dinge aus sicherer Entfernung. Saida hatte die Sache schnell an sich gerissen. Preising konstatierte, dass sie hier in der Wüste, genauso wie in den Straßen von Tunis, mit großem Selbstbewusstsein und einer anerzogenen Autorität auftrat.
    «Es war laut, es war hektisch, und es entbehrte nicht einer gewissen Aggressivität», berichtete Preising mit sichtbarer Missbilligung. «Und es zog sich dahin, ohne dass man sich auch nur im Geringsten zu einigen schien. In diesen Teilen der Welt, da hat der Disput einen ganz anderen Stellenwert. Und er funktioniert nach gänzlich anderen Regeln. Versuche niemals, dich einzumischen. Chancenlos, ich verspreche dir, du wirst immer das Falsche sagen. Und es hat etwas, ja, ich würde fast sagen, Sportives. Diskussionen um der Diskussionen willen. Und versuche nie zu sagen, ruhig Blut, regeln wir das doch ganz unaufgeregt. Dieses Aufgeregte, das ist der eigentliche Zweck.» Er schaute mich einen Moment sorgenvoll an, dann fuhr er fort: «Jedenfalls wird mir persönlich bei dieser Art aufgeregtem Disput schnell fad. Das führt ja meistens zu nichts. Also ließ ich mir von unserem Fahrer die Financial Times, die auf dem Armaturenbrett lag, nach hinten reichen.
    Die Zeitung kannte nur ein Thema, das überraschende Wiederaufflammen der Finanzkrise, vor allem die mehr als prekäre Lage Englands, die durch den Zusammenbruch der Royal Bank of Scotland, an der die Regierung seit der Bankenkrise über achtzig Prozent Anteile hielt, ausgelöst wurde und innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu einem nationalen, ach, was sage ich, zu einem internationalen Chaos führte, da in ihrem Gefolge die Lloyds Banking Group, mit über siebzig Prozent der Anteile im Besitz der Regierung, kollabierte, weil die Institute, ohne dass die Regierung Kenntnis davon zu haben schien, über gemeinsame
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