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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren
Autoren: Jonas Lüscher
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stattdessen seine drei Söhne herbitte, und ich alle Mühe hatte, ihm zu versichern, es läge hier eher ein Dilemma der Qual der Wahl vor, so einzigartig ansehnlich sei jede Einzelne, während ich doch eigentlich innerlich nach einem Ausweg suchte, wie ich das Angebot gänzlich ausschlagen konnte, ohne ihn tödlich zu beleidigen, wurde er von einem Hausangestellten mit hektischen roten Flecken im Gesicht gerufen. Eines der Phosphatwerke Moncef Daghfous’ stand in Flammen. Daghfous ließ mich in der Obhut seiner Töchter zurück, die sich in anrührender Art und Weise um mich kümmerten, und versicherte, alsbald wieder zurück zu sein und dann meine Wahl zu erfahren.»
    Doch dazu kam es nicht. Während die Töchter unter der Aufsicht einer Alten Tee und süße Speisen auftrugen, versuchte Daghfous, seine Arbeiter mit rudernden Armen und wüsten Drohungen zum Brandherd zurückzutreiben, damit sie sich dem Feuer stellten. Als alles Wedeln und Drohen nichts half, griff er sich einen Eimer Sand und einen Spaten und schritt, ein mutiges Vorbild abgebend, dem brennenden Lagerhaus entgegen, direkt in die Druckwelle hinein, die, ausgesandt von einer gewaltigen Explosion, Moncef Daghfous den Kopf vom Leib riss und sein Phosphatwerk, das Wellblech, die altertümlichen Förderbänder, die französischen Schaufelbagger und die amerikanischen Radlader zerlegte und in einem weiten Radius in der steinigen Landschaft verteilte.
    «Als derselbe Hausangestellte die traurige Nachricht überbrachte, rechnete ich mit einem folkloristischen Trauerritual. Lautes Wehklagen, Haareraufen, expressives Zerkratzen der vom Schmerz verzerrten Gesichter, Schwächeanfälle und dergleichen mehr. Stattdessen sahen sich die sechs Töchter schweigend an, räumten die Teegläser und die silberne Kanne weg und stellten mich mit einem angebissenen Baklava in der Hand auf die Straße.»
    Ob Preisings Geschichten wahr waren oder nicht, wusste man nie so genau, aber darum ging es nicht. Preising ging es um die Moral. Er glaubte, dass in jeder Geschichte, die sich zu erzählen lohne, eine solche stecke. Und meist waren seine Geschichten Zeugnis seiner eigenen Besonnenheit, auf die er sich viel einbildete.
    Eine Besonnenheit, die Frau Doktor Betschart allerdings für behandlungsbedürftig hielt und für die sie auch drei Wochen nach Preisings Einlieferung immer noch nach der richtigen psychopathologischen Bezeichnung suchte. Die Diagnose schien schwierig, die Symptomatik unscharf, und auch die Uneinsichtigkeit des Patienten, die abwechslungsweise charmant und liebenswürdig, dann aber auch wieder mit ermüdender Starrköpfigkeit daherkam, vereinfachte die Sache nicht.
    Meine ordinäre Depression war ungleich einfacher zu diagnostizieren und zugleich wesentlich weniger interessant. Doch in unserer Unfähigkeit, uns als Handelnde zu verstehen, waren wir uns gleich, Preising und ich. Ihm gelang es, diesen offensichtlichen Mangel als Tugend zu verstehen. Ich dagegen leide sehr darunter. Aber etwas daran zu ändern, hieße zu handeln.
    «Jedenfalls», so fuhr Preising fort, «war die Quelle zweifelhaft, und Slim Malouchs Betragen gab auch sonst nicht den leisesten Anlass, an seiner tadellosen Herkunft zu zweifeln. Formvollendet platzierte er mich neben seiner Tochter Saida im Fond einer französischen Limousine, deren maritimes Fahrverhalten auf den löchrigen Straßen von Tunis mich an den Ritt auf einem Kamel gemahnte; doch von den Kamelen erst später», schob Preising ein, «schloss hinter mir den Schlag und kletterte selbst hinter das Lenkrad eines Geländewagens, der von mir ganz unbemerkt neben uns zum Stehen gekommen war. Mit dem Telefon am Ohr und einem charmanten Winken schoss er an uns vorbei. Ich würde ihn erst abends wiedersehen. Zu seinem größten Bedauern, wie er mir versichert hatte, war er ausgesprochen beschäftigt, doch Saida werde sich um mich kümmern und mich zu dem von ihr geleiteten Hotel bringen, welches mir für die erste Nacht als Unterkunft dienen werde.
    Saida deutete mit nobler Geste, die mir die letzten Zweifel bezüglich der Familie Malouch nahm, auf die Sehenswürdigkeiten, die hinter den getönten Scheiben vorbeizogen. Ein Zipfel vom Lac de Tunis, ein paar Meter der Avenue Habib Bourguiba, das Magazin Général, ein paar pittoreske Türen. Ich verdrehte interessiert den Kopf. Tat, als sähe ich alles zum ersten Mal. Malouch brauchte ja nicht unbedingt zu erfahren, dass ich, vor kaum einem Jahr auf Einladung seines Konkurrenten
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