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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren
Autoren: Jonas Lüscher
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tatsächlich keine Ahnung, welch fatale Bindung die Reagenzien Lächerlichkeit und Geschmeidigkeit eingegangen waren, um nun, mit der Kaltblütigkeit von Frischverliebten, die strauchelnde Frau des Soziologen nach fünfunddreißig Ehejahren in den Abgrund zu stoßen.
    Sanford war nach einer weiteren Vereinigung mit Jenny, bei der sie ihre Geschmeidigkeit und deren Vorzüge einmal mehr unter Beweis gestellt hatte, innerlich zumindest wieder so weit hergestellt, dass er sie davon überzeugen konnte, dass es keine gute Idee sei, seine Frau gemeinsam aufzusuchen, um sie über die neue Sachlage zu unterrichten; diesen schweren Gang habe er ganz alleine zu gehen. Jenny betonte mehrfach, wie peinvoll die Gewissensqualen seien, denen sie sich angesichts der Trümmer dieser Ehe ausgesetzt sehe. Unter keinen Umständen wolle sie als Spaltpilz gelten – sie verwendete den aus dem Griechischen stammenden Ausdruck Schizomycet, denn sie hatte einmal ein paar Semester Biologie studiert und legte seit einer Dreiviertelstunde Wert auf eine akademische Ausdrucksweise, auch wenn sie damit, wie in diesem Fall, metaphorischen Schiffbruch erlitt. Sanford war mühelos in der Lage, sie zu beruhigen. Seine Ehe stehe seit dem Tod ihrer Tochter vor drei Jahren auf Messers Schneide, und Jennys Auftauchen sei sozusagen nur das Fallbeil, welches den letzten Hautlappen durchtrenne, der den Kopf noch mit dem Rumpf verbunden habe; metaphorisch gesprochen, wie er anfügte. Eine Trennung sei in ihrem Fall nur die Erfüllung der statistischen Prophezeiung, neun von zehn Paaren würden sich nach dem Verlust eines Kindes im Verlauf der ersten achtundvierzig Monate trennen. Woran zu sehen sei, entgegnete die nackte Jenny, dass selbst die Liebe der Macht der Zahlen unterworfen sei, so wie das Schaf dem Schäferhund und jener wiederum dem Schäfer. Ob er verstehe, was sie meine? Sicher, behauptete Sanford, causal chains, und küsste sie auf den Scheitel. Ja, sagte Jenny zufrieden, Kausalketten, stark wie jene zwischen uns. Ihm schwirrte der Kopf, und froh, diesem semantischen Schützengraben zu entkommen, streifte er sich seine sandfarbenen Shorts über den bloßen Hintern, schlüpfte in seine Sandalen und machte sich auf, seine Ehe zu beenden.
    Breitbeinig, das Schlenkern seines erschöpften Gliedes genießend, erklomm er die Stufen zur Terrasse des Beys, wo er seine Frau genau so vorfand, wie er sie Stunden zuvor verlassen hatte, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne Afrikas zugewandt.
    Pippa allerdings machte nur für einen unaufmerksamen Beobachter, wie es Sanford in jenem Moment war, einen unveränderten Eindruck. Tatsächlich hatte sie bereits ein bedenkliches Stück des Weges zu einem veritablen Sonnenstich zurückgelegt, einen Weg, den sie Schritt für Schritt auskostete, so gut schienen die damit verbundenen Empfindungen, das Schrumpfen ihrer Hirnrinde, die fortschreitende Dehydration, die tanzenden Flecken vor ihren geschlossenen Lidern, der leichte Schwindel, mit ihrer psychischen Verfassung, mit ihrem Taumeln und Straucheln, zu korrespondieren.
    Es wurde ein recht kurzes Gespräch. Sanford nahm ihr ihr helles Lachen übel.
    «Ich fand Pippa», so berichtete Preising, «sehr aufrecht, auf der äußersten Kante der orientalischen Liege sitzend, vor. Ihr Blick ruhte in der Ferne. Sie bat mich, neben ihr Platz zu nehmen. Ich erkundigte mich, ohne Kenntnis dessen, was gerade vorgefallen war, nach ihrem Befinden. Sie versuchte sich an einem Lächeln, dann brachen sich ganz unvermittelt helle Tränen ihre Bahn. In nichts als den besten Absichten ergriff ich ihre Hand, immer noch im Glauben, ihre Tränen gälten der Wirtschaftslage Britanniens. Mit einer raschen Bewegung schüttelte sie meine Hand ab und stand auf, strauchelte, tat einen unsicheren Schritt in Richtung Abgrund, und hätte da nicht jenes gedrechselte und geschnitzte Tischchen gestanden, auf dem sie halb sitzend, halb liegend zu ruhen kam, hätte nur noch mein beherztes Eingreifen sie vor dem Sturz in die Palmwipfel bewahren können. Auf mein Insistieren hin gestand sie, dass sie bereits seit den frühen Morgenstunden hier gesessen habe, von Schlaflosigkeit getrieben, ohne auch nur einen Schluck zu trinken, ohne einen Bissen zu essen. Ich tat meine Absicht kund, sie unverzüglich in ihr Zelt zu begleiten, doch dies schien ein Ort, den sie keinesfalls mehr zu betreten wünschte, stattdessen äußerte sie die Bitte, sich in meinem Zelt ausruhen zu dürfen. Eine Bitte, der ich
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