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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren
Autoren: Jonas Lüscher
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Umstände, als sie beschloss, ihren Wertekodex, der ihr plötzlich überholt und wenig zukunftsträchtig erschien, über Bord zu werfen und durch einen neuen zu ersetzen, in dessen Zentrum die Begriffe Liebe und Familie standen, eine Liebe, die sie einem völlig überrumpelten Sanford gestand, und eine Familie, die sie, so ihr Plan, mit ihm zu gründen vorhabe, wie sie ihm mitteilte, nachdem sie völlig erschöpft von einer ersten zügellosen geschlechtlichen Begegnung, zu der er sich nach kurzem inneren Kampf hatte hinreißen lassen, in seiner verschwitzten Armbeuge lag und mit seinem spärlichen, ergrauten Brusthaar spielte.
    Jenny war selbst erstaunt, wie begehrenswert ihr plötzlich dieser hagere Akademiker im Alter ihres Vaters vorkam, hatte sie doch noch vor wenigen Stunden seine begehrlichen Blicke und seine unbeholfenen Versuche, mit ihr zu tanzen, im besten Fall amüsiert zur Kenntnis genommen. Doch wie anders erschien er nun, im Lichte dieses neuen Tages, wie er mit natürlicher Autorität die Führung übernommen hatte, er, der ein Leben lang auf das richtige Pferd gesetzt hatte und sich nicht von dem sich als so vergänglich erweisenden Glanz des schnellen Geldes aus seiner beständigen Welt des Geistes hatte locken lassen. Ein Lehrstuhl an einer Universität, die seit fünf Jahrhunderten den Stürmen der Geschichte trotzte, ein abbezahltes Haus und eine Frau, die sie mit einem einzigen geschmeidigen Hüftschwung ins Abseits zu drängen in der Lage war. Jenny packte die Gelegenheit beim Schopf, bevor es eine andere tat, und Sanford bei der Hand, zog ihn hinter eine Palme, drückte ihn mit dem Rücken an den rauen Stamm, öffnete sein Hemd, gestand ihre Liebe, bedingungslos, nutzte seine wachsende Verwirrung, steigerte seine Geilheit, indem sie seine Hände auf ihren festen Busen dirigierte – eine Maßnahme, die noch eher dem überholten Wertekatalog zu entstammen schien, die sie aber mit der Gewissheit, dass es die Hände ihres zukünftigen Ehemannes und Vaters ihrer Kinder seien, legitimierte –, und legte dergestalt den Grundstein zu ihrer neuen Zukunft, nachdem die alte, keine zwei Stunden zuvor, zwischen den Mühlsteinen der Märkte zu Staub zerrieben ward.
    Sanford, fürs Erste recht befriedigt und dabei, seine analytischen Fähigkeiten zurückzuerlangen, roch an Jennys Haar, das unaufdringlich nach einer teuren Spülung duftete, und wog Lächerlichkeit und Geschmeidigkeit gegeneinander auf. Sicher, er gab sich der Lächerlichkeit preis, darüber machte er sich keine Illusionen. In seinen Kreisen galten alternde Männer mit Freundinnen im Alter ihrer Töchter als lächerlich. Ja, er selbst war jederzeit bereit gewesen, Kollegen, die sich mit Studentinnen einließen – wiewohl er hier in die Waagschale warf, dass Jenny bei Weitem nicht mehr im Alter einer Studentin war –, als alte Esel und Narren zu bezeichnen. Und vermutlich hatte als besonders lächerlich zu gelten, wer sich bei der Hochzeit seines Sohnes in die Trauzeugin der Schwiegertochter verliebte, und dass er sich verliebt hatte, davon war er bereits überzeugt. Ja, nach seinen eigenen Maßstäben hatte er als lächerlich zu gelten. Andererseits war da Jennys Geschmeidigkeit. Die geschmeidige Jenny. Die Geschmeidigkeit wog schwer. Und sie wog umso schwerer, da er mit den Ereignissen in der Heimat die Verheißung eines Neuanfangs verband, eines Neuanfangs, der ohne Männer wie ihn, die ein Leben lang auf der richtigen Seite gestanden hatten und ihre besten Jahre damit verbracht hatten, darüber nachzudenken, wie die Gesellschaft eigentlich einzurichten sei, kaum zu bewerkstelligen war. Im richtigen Licht betrachtet, stand ihm diese Geschmeidigkeit sogar zu, for the greater good, wie er sich sagte. Ein Gedanke, der ihm einen Augenblick lang ganz logisch erschien, und später spielte es keine Rolle mehr, denn er hatte sich bereits für die Lächerlichkeit und die Geschmeidigkeit entschieden.
    «Mit Grausen hatte ich mich von der Szenerie am Pool abgewandt und mich auf die Suche nach Saida gemacht, die ich in ihrem Büro hinter dem Empfang fand und bei der ich mich erkundigte, wie es denn mit meinem Wagen aussehe, denn mittlerweile schien es mir doch am klügsten, diesen Ort bald zu verlassen. Saida, deren Souveränität zusehends maskenhafte Züge annahm, beschied mir, es sei zwar ein Wagen bestellt und ihrer letzten Information zufolge auch ein Fahrer mit einem solchen hierher unterwegs, aber sie habe offen gestanden keine Ahnung, wann
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